Fussnoten, Druckerschwärze und komplizierte, trockene Sätze? Nicht bei Yuval Noah Harari. Mit seiner neu erschienenen Graphic Novel Sapiens. Der Aufstieg greift der Historiker zu alternativen Methoden der Geschichtsvermittlung. Er wirft dabei so manche Frage auf. Etwa: Ist Geld eine Fiktion? Und: Sind die Sapiens die grössten Serienmörder der Geschichte?
«Aber Onkel Yuval, bist du wirklich sicher, dass es diese ganzen Menschenarten nicht mehr gibt und wir heute alle Homo Sapiens sind?» –
Dieser und vielen weiteren Fragen, welche Onkel Yuval von seiner Nichte Zoé gestellt bekommt, geht Yuval Noah Harari in seiner kürzlich erschienenen Graphic Novel Sapiens. Der Aufstieg nach. Um sie zu beantworten, nimmt er seine Nichte mit zu verschiedenen Wissenschaftler*innen. Etwa zu Professorin Saraswati, welche Zoé die Entwicklung unseres aufrechten Gangs erläutert, oder zu Professor Dunbar, der ihr aufzeigt, worin sich die Kommunikationsfähigkeiten von Sapiens von denen anderer Tiere unterscheiden. Zwischendurch erklärt die Superheldin «Doctor Fiction» die Bedeutung von Mythen für das Zusammenleben von Menschen in grosser Zahl, und Detektivin Lopez jagt die grössten Serienmörder aller Zeiten, die sie für das Verschwinden eines grossen Teils unseres Ökosystems verantwortlich macht. Wen sie damit meint? Die Sapiens! Wir kommen darauf zurück.
Yuval Noah Harari verarbeitet die Erkenntnisse seines Bestsellers Eine kurze Geschichte der Menschheit in einer vierteiligen Serie von Graphic Novels. Die beiden Illustratoren Daniel Casanave und David Vandermeulen haben dafür Hararis Texte in enger Zusammenarbeit mit ihm in Bilder umgesetzt. In diesem ersten Teil lassen sie Onkel Yuval und Zoé der Frage nachgehen, wie sich der Sapiens zum «Herrn der Welt» aufschwingen konnte.
Die Graphic Novel stellt eine Form der Geschichtserzählung dar, wie wir sie uns vielleicht weniger gewohnt sind. Doch so ganz anders als bisherige Formen der Geschichtserzählung sei sie eigentlich nicht, meint Harari. Historische Bücher erzählen immer eine Geschichte. Sie setzen einen Anfang und ein Ende, rücken manche Akteure*innen in den Vordergrund, stellen andere in den Hintergrund und lassen viele überhaupt nicht auftreten. Dies alles entspricht nicht der Realität. Eine historische Erzählung ist also immer eine Auswahl, sie wirft ein spot-light auf gewisse Dinge und ist geprägt von der Autor*in, ungeachtet aller Bemühungen, möglichst viele Stimmen miteinzubeziehen. In diesem Sinne unterscheidet sich eine Graphic Novel nicht besonders von einem geschichtswissenschaftlichen Buch.
Die Form der Graphic Novel wirft aber auch Fragen auf, die beim wissenschaftlichen Schreiben gar nicht erst auftauchen. So zum Beispiel bei der Darstellung der Begegnung und allmählichen Vermischung von Sapiens und Neandertalern. Man weiss, dass sich die beiden Gruppen vermischt haben, aber viel mehr als das weiss man nicht. Trotzdem muss man sich beim Zeichnen des Bilds festlegen: waren es eine Sapiens-Frau und ein Neandertaler-Mann, oder umgekehrt? Das muss vom Autor*innen-Team sehr genau überlegt und thematisiert werden, damit durch die bildliche Darstellung von Sachverhalten, über die die Forschung schlicht keine klaren Erkenntnisse hat, keine falsche Eindeutigkeit suggeriert wird. Dies ist besonders bei der Darstellung von Ereignissen problematisch, die so weit zurückliegen wie die Begegnung zwischen Sapiens und Neandertalern.
Graphic Novels sind also vereinfachte Darstellungen, Differenzierungen fallen weg, vieles geht verloren. Aber ist das ein Grund, eine solche Form nicht zu verwenden?
Ich finde nicht. Erstens haben auch wir Geschichtsstudent*innen nicht immer Lust, uns durch hunderte dicht beschriebene Seiten voller Verweise und Quellenangaben zu kämpfen. Graphic Novels machen Spass und sind eine willkommene Abwechslung zur systematischeren, wissenschaftlichen Herangehensweise. Und sie machen Lust darauf, mehr zu erfahren und doch wieder hinter die Bücher zu gehen.
Zweitens sind Graphic Novels wie Sapiens. Der Aufstieg eine Chance. In den letzten Jahrzehnten wurde die Geschichtswissenschaft nämlich vermehrt kritisiert, weil sie im eingegrenzten Raum der Universitäten blieb und zu wenig auf das steigende Interesse an öffentlichen Geschichtsangeboten einging. Die Public History versucht genau dies zu ändern und eine Verbindung herzustellen zwischen der akademischen Wissensproduktion und der Vermittlung von Geschichte an ein Publikum ohne geschichtswissenschaftliche Vorbildung. Denn schlussendlich werden Geschichten nicht nur im Elfenbeinturm erzählt, sondern auch über die vielen populären Kanäle, welche heutzutage dazu zur Verfügung stehen. Und wenn sie sowieso erzählt werden, ist es sinnvoll, wenn das Historiker*innen tun, die sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Denn gerade populäre Romane und Filme prägen Geschichtsbilder und den öffentlichen Diskurs um bestimmte Themen entscheidend.
Schlussendlich geht die Diskussion um die Form der Geschichtsvermittlung auf die Frage zurück, die wohl jeder Geschichtsstudentin und jedem Geschichtsstudenten schon unzählige Male gestellt wurde: Warum studierst du Geschichte? Wieso ist das wichtig, und was kannst du nun damit anfangen? Von mir selbst kann ich sagen, dass ich nicht von Anfang an eine besonders schlagfertige Antwort auf diese Fragen bereit hatte. Doch ich bin immer mehr der Überzeugung, dass es ungemein wichtig ist, historische Erkenntnisse an eine breite Öffentlichkeit weiterzugeben. Einerseits, um zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beitragen zu können, und andererseits, um falsche Vorstellungen zu bekämpfen, welche Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Und deshalb ist es wichtig, dass sich Historiker*innen mit den grossen Fragen auseinandersetzen, die sich die Menschen stellen – und dass sie ihre Antworten oder auch nur Antwortmöglichkeiten einer breiten Öffentlichkeit
zugänglich machen.
Es gibt einen dritten und vielleicht unerwarteten Grund, der für die Form der Graphic Novel spricht: Die Historiker*in kann selbst darin auftreten.
Der Anspruch, dass sich die Historiker*in auf einen möglichst objektiven Standpunkt zurückzieht und sich selbst so wenig wie möglich in die Erzählung einbringt, ist in der Geschichtswissenschaft bereits überholt. Auch als Historiker*in ist man in ein Umfeld eingebettet und von diesem geprägt, schreibt also immer aus einer bestimmten Perspektive. Anstatt also eine vermeintliche Objektivität zu suggerieren, ist es viel gewinnbringender, die eigene Subjektivität zu thematisieren.
Harari macht dies deutlich, indem er als Figur selbst in der Graphic Novel erscheint. Es ist ihm vor allem wichtig zu zeigen, dass er mit einem ganzen Team von Wissenschaftler*innen zusammenarbeitet, die er in der Graphic Novel mit seiner Nichte Zoé besucht. Denn als Universalhistoriker ist er auf die Zusammenarbeit mit vielen anderen Wissenschaftler*innen wie Archäolog*innen, Genetiker*innen und Biolog*innen angewiesen. So führt er seinen Leser*innen vor Augen, dass es nicht eine universal geltende Sichtweise und Darstellungsform gibt.
Zusätzlich hat die Figur Hararis auch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen zeitlichen Ebenen zu wechseln und sie dadurch aufeinandertreffen zu lassen. Dies ist beispielsweise von Nutzen, als er und die Superheldin «Doctor Fiction» Zoé erklären, wie zentral die Revolution der kognitiven Fähigkeiten der Sapiens war, um mit Fremden in grosser Zahl kooperieren zu können. Es war vermutlich eine Genmutation, die den Sapiens die Fähigkeit gab, Geschichten zu erzählen. Das Erzählen wiederum schafft Realitäten: Indem die Menschen an gemeinsame Fiktionen glauben, können sie den gleichen Regeln folgen und dadurch zusammenarbeiten. Das können Glaubensmythen sein, nationale oder juristische Mythen. Sogar Geld sei schlussendlich nur eine besonders gut und überzeugend erzählte Geschichte, an die alle Menschen glauben, erklären Onkel Yuval und «Doctor Fiction» der staunenden Zoé.
Um Zoé aufzuzeigen, was er damit meint, unterhält sich Onkel Yuval daraufhin mit einer Gruppe von Neandertalern über deren Jagdtechniken. Er erklärt ihnen, dass die Sapiens viel effizienter jagen, weil sie in grösseren Gruppen zusammenarbeiten und dadurch in kurzer Zeit ganze Herden erlegen können. Das ist laut Harari der springende Punkt: die Sapiens konnten den Weg zu den «Herren der Welt» beschreiten, weil sie Geschichten zu erfinden begannen, die Vertrauen zwischen einer grossen Anzahl Menschen stifteten und dadurch deren Zusammenarbeit ermöglichen. Davon erzählt Harari den Neandertalern, die kaum mehr genug Nahrung finden. Sein Vorschlag, mit ihren Nachbarn zusammenzuarbeiten und durch das Erfinden gemeinsamer Geschichten Vertrauen zu stiften, trifft aber auf Unverständnis.
Aber zurück zu der Frage, die Detektivin Lopez in der Graphic Novel beschäftigt: Sind die Sapiens die grössten Serienmörder aller Zeiten? Davon scheint sie überzeugt zu sein, weshalb sie Professorin Saraswati und Harari um Hilfe bittet, die beiden Sapiens, die sie gefangen hat, zu überführen.
Harari nimmt mit Zoé am Prozess «Ökosystem gegen Homo Sapiens» teil, bei dem die beiden Sapiens angeklagt werden, für die Ausrottung der australischen Megafauna vor 50’000 Jahren verantwortlich zu sein. Wie aber der Verteidiger aufzeigt, sind die Angeklagten Teil der viel grösseren «Sapiens-Bande», zu denen auch alle im Gerichtssaal Anwesenden gehören, und können somit nicht als allein schuldig verurteilt werden. Da die Richterin, die ja selbst auch Teil ebendieser «Sapiens-Bande» ist, keinen unparteiischen Urteilsspruch fällen kann, verweist sie den Fall an das «Hohe Gericht der Zukunft».
Und so beendet Harari seine Graphic Novel mit einem Appell, einem Appell an uns alle: Der Ball liegt bei uns. Wir müssen uns mit den Entwicklungen und Dynamiken auseinandersetzen, die die heutige Welt hervorgebracht haben und die sie weiter verändern werden. Dazu brauchen wir ein bestimmtes Wissen – das uns beispielsweise hier, in Form dieser Graphic Novel, anschaulich vermittelt wird.
Die Graphic Novel Sapiens. Der Aufstieg von Yuval Noah Harari ist beim C.H.Beck Verlag erhältlich. Illustrationen von Daniel Casanave und David Vandermeulen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.