Wenn alle den Pfarrer sehen können, kann auch der Pfarrer alle sehen: Ein Kirchenraum sagt viel über eine Gemeinschaft aus – weil er ausser Kunstwerk auch sozialer, politischer und symbolischer Raum ist. Ein Buch von etü-Redaktor Michael D. Schmid zeigt das anhand des Zürcher Querkirchenbaus. Diesen Donnerstag feiert es Vernissage.
In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, als das Christentum noch eine Sekte war, waren weder die Möglichkeiten noch das Bedürfnis gegeben, sakrale Kultstätten zu errichten. Privathäuser genügten als Versammlungsräume, denn der christliche Gott war immateriell und omnipräsent. Mit der Etablierung des Christentums nach 312 als Hauptreligion im Römischen Reich änderte sich dies. Klerikale Strukturen bildeten sich aus, Märtyrerkulte entstanden, grosse Versammlungsräume waren gefordert. In Anlehnung an die römische Architektur bildete sich die christliche Basilika als Haupttypus für sakrale Grossbauten, die Saalkirche mit eingezogenem Chor für Kleinbauten aus.
Die Charakteristiken dieser Typen sind eine ausgeprägte Longitudinalaxialität und eine sakrale und soziale Raumstrukturierung entlang dieser Achse. Vom Portal zum Sanktuarium mit dem Hochaltar markierten verschiedene Liminalitätsschwellen die Übergänge zu Zonen erhöhter Sakralität. Die architektonisch auffallendste dieser Schwellen war der Chorbogen, der zugleich eine soziale Schwelle darstellte: Er schied das den Laien vorbehaltene Schiff vom oft nur den Klerikern zugänglichen Chor. Das im Verlauf des Mittelalters immer weiter verfeinerte Gefälle von Klerus und Laien war somit im Kirchenraum architektonisch manifestiert.
Die Eucharistie wurde im Mittelalter durch die theologische Deutung als Transsubstantiation und sakramentale Opferhandlung, die als heilswirksam betrachtet wurde, zum Mittelpunkt des Messgottesdienstes. Im Verlaufe des Spätmittelalters traten allerdings immer mehr Prädikanten und Mendikanten auf, die keine Messpfründe innehatten, aber durch eifrige Predigten in engen Kontakt zum Volk traten. Dieser Bedeutungsgewinn der Predigt war eine Hauptvoraussetzung der Reformation.
Reformatorische Querdenker
Die Predigt war denn auch neben Flugschriften und Disputationen das zentrale Medium der innerkirchlichen Reformbewegung des Querdenkers Huldrych Zwingli, die schliesslich zum Bruch mit Konstanz und Rom führen sollte. Das Ziel der Reformation war eine Rückbesinnung auf das Wesentliche des Christentums. In Zürich mündete das Bestreben in die Abschaffung der Messe und aller Sakramente bis auf die im Evangelium nachgewiesenen (Abendmahl, Taufe), in die Abschaffung der Bildwerke, der Musik und der prachtvollen Kirchenschätze in den Sakralräumen. Überhaupt wurde die Sakralität der Kirchenräume von diesen Querdenkern in Frage gestellt: Würdige Räume für die versammelte Gemeinde, die durch die Wirkung des Heiligen Geistes geheiligt wird, sollten es sein. Eine immanente Raumsakralität wurde abgelehnt. Die Gottesdienstreform stellte die Predigt in den Mittelpunkt. Der Pfarrer sollte als Hirt der Gemeinde vorstehen und sie führen, aber keinesfalls als Kleriker eine Sonderstellung beanspruchen dürfen. Er sollte in geistlichen Dingen ein primus inter pares sein. Reformation bedeutete auch eine gewisse Ermächtigung des Volkes, das nun, statt still einem lateinischen Ritus beizuwohnen, das Gotteswort in verständlicher Sprache hören und selbst auslegen sollte.
Während hinsichtlich Theologie, Liturgie und institutioneller Struktur – man darf von einem Abbau geistlicher Hierarchien sprechen – mannigfaltige Veränderungen erfolgten, gab es im Kirchenbau zunächst keine grossen Reformprogramme. Die bestehenden Kirchenbauten genügten, Neubauten waren nicht gefordert, und wo sie dennoch entstanden, folgten sie dem bekannten Grundrissschema der Chorsaalkirche. Kirchen waren nun lediglich Zweckbauten und so wurden die bestehenden Räume umgenutzt. Vielerorts wurden Bänke in die Kirchen eingebaut – nicht selten derart, dass sie auf die meist an einem Pfeiler im Mittelschiff positionierte Kanzel ausgerichtet waren. Diese war als Predigtort anstelle des abgeschafften Hochaltars zum Mittelpunkt des Kirchenraumes geworden. Mit diesen Veränderungen der Raumdisposition wurde der Chor als Sanktuarium aufgehoben und die Achse des Raumes gewissermassen gedreht, sodass eine Quertendenz entstand. Diese hatte bereits im Mittelalter existiert, wenn sich die Gläubigen quer zur Hauptachse vor der Kanzel zum Prädikantengottesdienst versammelt hatten.
Quergerichtete Schlosskapellen und Stadtkirchen
Zaghaft begann im 16. Jahrhundert die Suche nach neuen, dem protestantischen Gottesdienst gemässen Raumformen. Von den vielfältigen Bautypen, die hierbei entstanden, ist wohl keiner so eminent protestantisch wie die Querkirche. Der Begriff bezeichnet Räume, bei denen die Querachse die Längsachse an Länge übertrifft – im Unterschied zu Zentralbauten oder Längsbauten. Entscheidend für die Hauptachse ist eine Kanzel, die bei Querkirchen an der längeren Wand situiert ist. Sie bildet den Mittelpunkt der Kirche, auf den das Gestühl und die Emporen ausgerichtet sind.
Erstmals realisiert hat diesen Typus Baumeister Aberlin Tretsch für die lutherische Schlosskirche Stuttgart 1558-1562. Dem stark querrechteckigen Raum ist ein Polygonalchor als Altarraum angefügt (im Luthertum wurden weiterhin Altäre verwendet), während die Kanzel direkt neben dem Chorbogen, also fast auf der Hauptachse zu liegen kommt. In Deutschland folgten einige weitere Schlosskapellen mit Querorientierung – doch blieb der Typus eine Seltenheit.
Die zweite Traditionslinie beginnt im Calvinismus, der sich um 1600 in den Niederlanden als Hauptkonfession durchsetzte. Hierdurch wurde das Land und besonders die aufstrebende Handelsmetropole Amsterdam zu einem Zentrum der reformierten Kultur. Dabei entstanden zahlreiche Querkirchen, etwa die von Hendrick de Keyser entworfenen frühbarocken Stadtkirchen Zuiderkerk (1603-1611) und Westerkerk (1620-1631), die mehrschiffige Hallen mit eindeutiger Quertendenz sind. Auch im ländlichen Bereich wurden Querkirchen errichtet. Beliebt war besonders das mit der Dorpskerk von Bloemendaal (1636) initiierte Grundrissschema des Queroktogons.
Erst im 18. Jahrhundert gelangte die Querkirche in zahlreichen protestantisch geprägten Regionen Europas zu ihrer qualitativen und quantitativen Hochblüte. So zum Beispiel Heinrich Peyers Kirche von Wilchingen SH (1676), die mit ihrem queroktogonalen Grundriss offenbar an die niederländische Tradition anknüpft. Matthias Vogel realisierte in Zurzach AG (1616-1617) einen Nachfolgebau mit demselben Grundriss. Anders als in Wilchingen markiert der Turm an der Mittelachse auch äusserlich die Quertendenz. Im Innenraum ist die dreiseitige Empore bemerkenswert, die ein Wesensmerkmal des Zürcher Querkirchenbaus werden sollte. Dass diese reformierte Querkirche in einem paritätischen Flecken einer Gemeinen Herrschaft entstand, wenige Jahre nach dem Zweiten Villmergerkrieg, ist kein Zufall: Die Wahl des Querkirchenschemas kann als Ausdruck spezifisch protestantischer Gesinnung, als religionspolitisches Postulat aus Stein, betrachtet werden.
Querkirchen im Kanton Zürich
Erst 50 Jahre später sollte die erste Querkirche auf Zürcher Boden entstehen. Mit dem Neubau der Kirche Wädenswil war der bekannte Brückenbauer Johann Ulrich Grubenmann 1763 beauftragt worden. Die Schriftquellen zur Baugeschichte geben keinen Aufschluss darüber, wer die Querkirchenidee für Wädenswil initiiert hat, aber es war wohl nicht Grubenmann selbst. Dieser entwickelte jedoch auf der Basis eines fremden Risses ein eigenes Bauprojekt, das 1764-1767 realisiert wurde. Das stattliche Gotteshaus ist im Grundriss querrechteckig und verfügt auf der Südseite über einen Risalit. Den Innenraum prägen die sich beim zentral platzierten Taufstein kreuzenden Gänge und die dadurch generierten Bankblöcke, ebenso die enorm steile dreiseitige Empore. Jeder der ursprünglich 1‘500 Plätze war auf die elegante Rokoko-Kanzel ausgerichtet. Grubenmanns Geschick als Zimmermann erlaubte die stützenfreie Überdachung des 21×36 Meter messenden Raumes. Wädenswil war die Initialzündung einer ganzen Reihe von insgesamt 22 reformierten Querkirchen im Kanton Zürich.
Kirchenbauten sind nicht nur Zeugnis ihrer eigenen Geschichte. Sie sind Quellen zu theologischen, liturgischen, sozialen, politischen und baukünstlerischen Verhältnissen und deren Wandel. In besonderem Masse mag dies für die reformierten Querkirchen der Barockzeit gelten: Sie sind Ausdruck der Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit der frühneuzeitlichen Kultur.
Ein Ort der Überwachung
Der Kirchenbautheoretiker Leonhard Christoph Sturm empfahl 1718 die Querkirche als idealen protestantischen Bautypus. Da die Predigt das Zentrum des Gottesdienstes bildete, war die Optimierung der Sicht- und Hördistanz zur Kanzel ein Kernanliegen des protestantischen Kirchenbaus. Die Querkirche erlaubt die Gruppierung der Gemeinde um die Kanzel herum und unter Einbezug der Emporen eine Raumverdichtung in Kanzelnähe. Das Hören auf das Gotteswort stand als Sinnesregung im Mittelpunkt der protestantischen Liturgie, doch betont Sturm explizit auch den Gesichtssinn. Er erinnert an die antike Theaterarchitektur, die hier Inspiration bieten könnte. Tatsächlich ist das Gestühl der Querkirche eine Art Koilon mit uneingeschränktem Blick auf die Skene, hier die Kanzel.
Die Betonung des Gesichts- und Gehörsinns verweist auf eine weitere Dimension des Querkirchenbaus: Wenn alle den Pfarrer sehen können, kann der Pfarrer auch alle sehen. Wie konnte besser symbolisch zum Ausdruck gebracht werden, dass der Dorfpfarrer – in der Frühen Neuzeit oberster Sittenwächter der Gemeinde – stets jedes einzelne Individuum im Auge hat Auch fiel dank der festen Sitzordnung sofort auf, wenn jemand im Gottesdienst fehlte. So war die Querkirche auch ein Raum der tatsächlichen und symbolischen Überwachung, eine Art offenes Panopticon.
Die Sitzordnung erlaubte eine soziale Raumstrukturierung: Lokale Fürstenhäuser besassen oft Logen; Vögte, Beamte und der Stillstand zumindest hervorgehobene Sitze. Die übrigen Plätze (Kirchenörter) wurden nicht selten versteigert. Der Bau der Kirche Wädenswil konnte auf diese Weise finanziert werden. Ein eigenes Kirchenort galt als Prestige-Objekt und dessen Besitzer konnte sich so von den besitzlosen Klassen abheben. In Wädenswil sind diverse Familienwappen im Krebsgestühl der Empore erhalten – Ausdruck der typisch frühneuzeitlichen Repräsentationskultur, die bereits in der Dorfgesellschaft begann. Die Männer hatten auf Krebsstühlen, die Frauen auf Bänken zu sitzen und waren somit streng separiert. Auch die soziale Geschlechterdifferenz wurde so im Raum erfahrbar.
Gebäude und Räume als Quellen
Einweihungspredigten sind interessante Quellen zur Wahrnehmung der Kirchenbauten. Sie warnen meist davor, das Gebäude nicht genügend mit Frömmigkeit zu füllen, denn erst die Gemeinde mache die Kirche und ihre Heiligkeit aus. Dennoch werden die Kirchen selbst als Heiligtümer bezeichnet. Offenbar ging das Konzept der Raumsakralität nach der Reformation nicht unter, sondern wurde lediglich modifiziert. Typisch für die reformierte Theologie ist auch die Betonung des allgemeinen Priestertums: Jede und jeder ist zum Priester berufen und der Pfarrer ist, trotz seiner sozialen Sonderstellung, nur ein Teil der Gemeinde. Die Querkirche kann als Ausdruck dieser theologischen Auffassung gedeutet werden. Die Gemeinde umgibt den Pfarrer, sitzt teilweise über ihm auf den Emporen und wird durch die Mauern des offenen Raumes zur Einheit zusammengefasst.
Es wird deutlich, dass die Querkirche als Raumquelle Aufschluss über die Gesellschaft der frühen Neuzeit gibt. In ihr manifestieren sich die Widersprüche der Zeit – Profanität und Sakralität, Gemeindegefühl und soziale Segregation, Ermächtigung und Ohnmacht. Querkirchenräume sind nicht bloss Kunstwerke, sondern in ihrer Polyvalenz universalhistorische Quellen von höchstem Wert.
Buch und Vernissage
Michael D. Schmid: Quergebaut. Querkirchen im Kanton Zürich, Wädenswil 2018. ISBN: 978-3-85928-200-1.
Die Vernissage findet am Donnerstag 30. August im Evangelisch-Reformierten Kirchgemeindehaus Horgen statt. Beginn: 19.00.