Die Reformation jährt sich dieses Jahr zum 500. Mal. Bereits an der wachsenden Zahl von Publikationen konnte man das Herannahen des Reformationsjubiläums erahnen. Gestern, mit dem Neujahrstag 2017, begann dieses grosse Ereignis. Ereignis? War die Reformation ein Ereignis? Und ist das Jubiläum eines?
Es geschah am 31. Oktober 1517: Ein Augustinermönch schleicht sich durch die Altstadt von Wittenberg, mehrere beschriftete Tafeln und Werkzeug bei sich tragend. Als er vor dem Portal der Schlosskirche ankommt, holt er seinen Hammer aus dem Habit, und beginnt mit Wucht die berühmten «95 Thesen» an die Pforte zu schlagen. Die Schallwellen hallen durch das ganze christliche Abendland, und kein Stein bleibt mehr, wo er war.
Die populäre Vorstellung der Reformation wird immer noch von Legenden (wie der von Luthers Thesenanschlag) und Anekdoten geprägt. Auch im Zusammenhang mit Zwingli sind die Anekdoten in der breiten Masse bekannter, als etwa seine Lehre zum heiligen Geist oder Sakramentslehre. Berühmt ist das Wurstessen in der Zürcher Druckerei von Christoffel Froschauer, bei dem wichtige Zürcher Bürger im Beisein Zwinglis einen provokativen Fastenbruch vollzogen, indem sie während der Fastenzeit Wurstscheiben in Hostienform verspeisten.
Längst hat sich aber in der Reformationsforschung, analog zur allgemeinen Entwicklung in der Geschichtswissenschaft, eine Abkehr von anekdotischem und ereignisgeschichtlichen Erzählungen, hin zu strukturgeschichtlichen Zugängen durchgesetzt. Die Reformation wird heute nur noch bedingt als Zäsur betrachtet, sondern eher als eine nahtlose Entwicklung verstanden, die inmitten der römischen Kirche ganz allmählich einsetzte. Dass die Reformation als komplexer, Jahrhunderte andauernder Prozess zu sehen ist, dessen Wurzeln in den Katharer-, Waldenser- und Hussitenbewegungen des Mittelalters zu suchen sind und dessen geistige Grundlagen bereits im 15. Jahrhundert in sakramentstheologischen Debatten gelegt wurden, hat die Forschung längst anerkannt. Auch der Umstand, dass sich die reformatorischen Kräfte selbst keineswegs als Revolutionäre oder Progressive sahen, sondern als konservative Verfechter der göttlichen Offenbarung im Evangelium und der «katholischen» (q.e.: allgemeinen) Kirche auftraten, ist in der Forschung inzwischen common sense. Fest steht ferner, dass die Reformation als eine sich selbst unter Wahrung des evangelischen Kerns beständig reformierende Bewegung zu verstehen ist, die das Motto «ecclesia semper reformanda» ausdrückt.
Wie sinnvoll ist es vor diesem Hintergrund, ein 500-jähriges Jubiläum zu zelebrieren, das sich auf ein legendäres Ereignis bezieht, welches eine längst überholte Historiographie zum «Urknall» der Reformation stilisiert hat? Hierzu muss man nach dem Wesen und Zweck von Jubiläen fragen. Ihr Charakter ist zunächst einmal anamnetisch: Sie sind Bestandteil der Erinnerungskultur. Diese wird durch die Chronologie der Ereignisse strukturiert, sodass Jubiläen gewissermassen Ordnungselemente im unüberschaubaren Feld der kollektiven Erinnerung bilden und somit Orientierung und systematisches Erinnern ermöglichen. Damit haben Jubiläen – in welcher Form und Wertung auch immer sie die Geschichte rezipieren – einen Anteil an der Ausbildung kollektiver Identität. Wie soll sich nun die Geschichtswissenschaft dazu verhalten?
Identitätsstiftender Geschichtsschreibung haftet ein schlechter Ruf an. Oft wird sie mit legitimatorischer, unkritischer oder gar verklärender Darstellung von Geschichte verknüpft. Zu Unrecht, wie ich meine. Identitätsstiftend muss nicht heissen, dass keine kritische Auseinandersetzung möglich ist. Im Gegenteil: Erst aus der Kontroverse heraus kann eine kollektive Identität Gestalt annehmen, und sie kann durchaus ambivalent und heterogen bleiben. Für „uns“, die wir in Zürich leben, studieren und/oder forschen, kann das Reformationsjubiläum eine Chance bedeuten: Die Chance, sich aus verschiedener Perspektive mit der Geschichte der Stadt zu beschäftigen, die nach Zwinglis Amtsantritt am Grossmünsterstift 1519 zu einem Zentrum einer europaweiten kirchlichen, politischen, sozialen, medialen und kulturellen Reformbewegung wurde. Die Chance besteht im Dialog von Forschenden, Kirche, Staat, Kunstschaffenden und Bevölkerung, der ein solches Jubiläum ermöglicht. Das Jubiläum ist als Einladung zu sehen, Reformation und reformierte Identität (auch ausserhalb der Kirche) neu zu denken. Es liegt an uns, ob wir das Jubiläum als ein simples Ereignis feiern wollen, oder es – ganz im Geiste der Reformation – auch als hermeneutischen Prozess angehen wollen, der uns neue Dimensionen des Verstehens eröffnen kann.