Unter allen heldenhaften Persönlichkeiten ist Wilhelm Tell wohl die prominenteste im Diskurs um die Geschichte der Schweiz. Dabei ist seine historische Existenz noch nicht einmal erwiesen. Seit dem 19. Jahrhundert wird Tells Existenz aufgrund der dürftigen Quellenlage von einer Mehrheit der Forschung negiert. Eine beträchtliche Minderheit, die beileibe nicht nur aus nationalpatriotisch motivierten Historikern besteht, plädiert allerdings dafür, dass um 1300 tatsächlich ein Befreiungskampf in den Waldstätten stattgefunden habe – mit Beteiligung eines oder mehrerer Helden, die später vielleicht in der Figur des Wilhelm Tell verdichtet wurden. Auch die Tell-«Biographie» von Jean-François Bergier, die trotz ihres Verzichts auf einen wissenschaftlichen Apparat zu einem Standardwerk der Tell-Forschung geworden ist, kommt zu diesem Schluss. Die Forschungsdebatte um Tell wird und soll sich von der Existenzfrage so bald nicht lösen, hat sich in ihrem Schwerpunkt aber längst auf die Rezeptionsgeschichte des Tell-Mythos verlagert. Dem trägt auch Bergiers Werk Rechnung, und auch dieser Artikel legt den Fokus auf die Wirkungsgeschichte des Mythos.
Des Mythos? Diesem in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zentralen Begriff haftet noch immer viel Negatives an, auch wenn er nicht mehr nur die Funktion eines Kampf-Terminus gegen Konservative hat. Freilich legt die Mythenforschung heute mehr Gewicht auf die Wirkungsweisen des Mythos als auf die Mythos-Wahrheit-Dichotomie. Aber dennoch: Der Mythos weist immer noch diverse negative Konnotationen auf. Der Mythos gilt als imaginäres Konstrukt, das Wahrheit, Unanfechtbarkeit und ewige Gültigkeit beansprucht. Aufgrund dieser Immunisierung gegen Inkohärenz (von innen) sowie Kritik und Auseinandersetzung (von aussen) wird der Mythos als etwas Statisches und Invariables betrachtet, und dieser Umstand wiederum als eigentlicher Skandal. Noch immer wird dem Mythos etwas Reaktionäres zugeschrieben, das bekämpft werden soll – «Mythenzertrümmerer» lassen grüssen.
Gerade der umkämpfte Schweizer Heldenmythos von Wilhelm Tell ist aber geeignet, um das allzu negative Mythenverständnis kritisch zu überdenken. Die Rezeptionsgeschichte lädt förmlich dazu ein. Drei wesentliche Eigenschaften sollen dem Mythos im Folgenden zugeschrieben werden: Er ist narrativ (muss also erzählend formuliert sein), erklärend (er versucht, Zusammenhänge zu deuten) und reduktiv (er reduziert die komplexe Wirklichkeit durch Simplifikation). Alle drei Eigenschaften kommen bezeichnenderweise auch der kritischen Geschichtswissenschaft zu: Auch sie muss erzählen, erklären und – wie jede Wissenschaft – vereinfachen.
Rebell und Integrationsfigur
Während im 14. Jahrhundert keinerlei Zeugnisse über Wilhelm Tell vorliegen, taucht der Volksheld ab Mitte des 15. Jahrhunderts plötzlich prominent in diversen Quellen auf. Bekannt sind vor allem das Weisse Buch von Sarnen, eine Urkundensammlung von 1472, der eine kurze Darstellung der Geschichte der Eidgenossenschaft beigefügt ist, sowie das so genannte Bundeslied von 1477, ein volkstümliches Lied über die Befreiungskämpfe der Eidgenossen. Die beiden Quellengattungen dieser ältesten Zeugnisse Tells verdeutlichen die breite Rezeption der Tell-Geschichte sowohl in der staatlichen Elite wie auch in der Bevölkerung.
Dass der Tell-Mythos, dessen historische und mythische Ursprünge nicht abschliessend zu eruieren sind, gerade im späten 15. Jahrhundert eine wachsende Popularität erfuhr und in diversen Chroniken Eingang fand, dürfte kein Zufall sein. Es war die Zeit der eidgenössischen Expansionspolitik, die nicht nur Territorialexpansion zur Folge hatte, sondern auch eine Kohäsionswirkung nach innen erforderte. Ein Volksheld wie Wilhelm Tell, dessen Mythos eng mit den zur Legitimation der Eidgenossenschaft zentralen Geschichten vom Rütli-Schwur und von Morgarten verknüpft ist, schien die ideale Integrationsfigur zu sein. Dabei divergierte aber die Perzeption der Tell-Figur zwischen Elite und Bevölkerung. Für die Elite war Tell vordergründig eine Zusammenhalt stiftende Figur. Der Tyrannenmord Tells stellte dabei das grösste Problem dar, war er doch wenig geeignet, um die Eidgenossenschaft als einen durch legitimen Freiheitskampf konstituierten Staatenbund zu rechtfertigen. Volkstümliche Versionen der Tell-Geschichte rückten dagegen gerade den Aspekt des einfachen Rebellen und Kämpfers gegen Unterdrückung in den Vordergrund. Bereits hier wird deutlich, dass der Tell-Mythos durchaus nicht ein festgefügter, statischer Geschichtenkomplex ist: Je nach sozialer Stellung und politischen Interessen wurde der Mythos bereits um 1500 unterschiedlich rezipiert.
Jakobiner und Sozialist
Die Sprengkraft des volkstümlichen Freiheitskämpfers wurde spätestens im Bauernkrieg von 1653 deutlich. Bauern aus dem Emmental, dem Entlebuch und dem Aargau verweigerten ihren Landesherren, den Städten Bern und Luzern, die Steuern und organisierten einen militärischen Aufstand – unter ausdrücklicher Berufung auf den Miteidgenossen und Kämpfer für die Freiheitsrechte des Volkes, Wilhelm Tell. Der Bauernaufstand wurde blutig niedergeschlagen.
Die Episode war nicht das Ende der revolutionären Inanspruchnahme des Tell-Mythos. Im Gegenteil. Die vielleicht memorabelste Revolution der neuzeitlichen Geschichte bediente sich eifrig der Schweizer Freiheitsmythen des Mittelalters: Für die Vorkämpfer der Französischen Revolution bildete der Freiheitskämpfer und Tyrannenmörder Tell ein ideales Vorbild. Die radikalen Jakobiner, allen voran Maximilien de Robespierre, beriefen sich ausdrücklich auf Tell. Ein Ereignis des Jahres 1792 mag die Popularität des Helden verdeutlichen: Im Zuge der so genannten Nancy-Affäre von 1790 beteiligten sich zahlreiche in Diensten des französischen Hofes stehende Schweizer Söldner an einer Meuterei. 1792 erwirkten die inzwischen erstarkten Jakobiner eine Amnestie der Meuterer von Nancy. Die Schweizer Meuterer wurden zu Märtyrern stilisiert. Die Jakobiner organisierten daraufhin in Paris ein mehrtägiges Fest mit Tell-Inszenierungen auf mehreren Bühnen und einem Umzug, in dessen Mitte ein als Tell gewandeter Mann auf einem Triumphwagen mitgeführt wurde. Die Begeisterung für den nun als Radikaldemokrat und liberalen Monarchiegegner verstandenen Helden war immens. 1798 kehrte der zum Jakobiner erklärte Tell in seine Heimat zurück: In den zahlreichen Volksaufständen gegen die Aristokratie und die Machthaber der Alten Eidgenossenschaft war Tell ein beliebtes Motiv. So wurde zum Beispiel der Landvogt von Wädenswil, Abgesandter der Zürcher Obrigkeit, von einem revolutionären Bürgertrupp abgesetzt, dessen Anführer als Tell verkleidet war. In der Helvetischen Republik ab 1799 wurde Tell zum selbstverständlichen Symbol der liberté und der égalité: Zwischen den beiden Revolutionsbegriffen prangte eine Abbildung des Helden auf amtlichen Briefköpfen.
Auf den Jakobiner Tell folgte der Sozialist Tell. Der Schweizer Marxist Robert Grimm erklärte Tell 1922 zum Bolschewiken. Den gegen die Obrigkeit aufbegehrenden Bauer als Klassenkämpfer zu deklarieren, erschien aus Sicht des Historischen Materialismus naheliegend.
Reaktionär und Patriot
Freilich haben nicht nur revolutionäre Kräfte Tell zu ihrer Galionsfigur erkoren. Den Vertretern des Ancien Régime der Eidgenossenschaft galt der Held zum Teil als Garant der alten Ordnung. Der Berner Maler Balthasar Anton Dunker stellte diese Auffassung theatralisch in einem Aquarell dar. Tell trägt die Armbrust und einen Schild, auf dem die drei schwörenden Eidgenossen abgebildet sind. Der Himmel hinter ihm und seinem obligaten Begleiter, dem Sohn Walter, ist von den Strahlen des Triumphs erfüllt. Zu Füssen des Helden liegt ein dreiköpfiges Ungeheuer mit Jakobinermütze, das die Revolution verkörpert. Das Aquarell zählt zu den eindrücklichsten Zeugnissen der reaktionären Inanspruchnahme Tells in der Eidgenossenschaft.
Dass Tell zum Held revolutionärer und liberaler Kreise wurde, war seiner Reputation in der katholisch-konservativen Zentralschweiz eher abträglich. In der Restaurationszeit, einer Hochphase der Debatte um die Wirklichkeit der Tell-Erzählung, gingen wesentliche Impulse der kritischen, die Historizität des Mythos verwerfenden Forschung, ausgerechnet von der Zentralschweiz aus. Tell war zum Held einer neuen progressiven Bewegung geworden, die dem Ancien Régime ebenso ablehnend gegenüberstand, wie der Radikalität des Jakobinismus. Die nationalliberale Bewegung, die auf eine stärkere nationale Integration der Kantone drängte, war vor allem in den reformierten Stadtkantonen aktiv. Wie für die deutschnationale Vormärz-Bewegung war auch für den eidgenössischen Nationalismus die bürgerliche Studentenschaft eine wichtige Schmiede. Der schweizerische Zofinger-Verein bildete den Kern einer nationalpatriotisch-liberalen Erinnerungspraxis an die Freiheitskämpfe der alten Eidgenossen.
Die Rolle als nationale Integrationsfigur kam Tell seit Anbeginn der Überlieferung zu. Doch mit der Gründung des Bundesstaates 1848, die einem Siegeszug des weltweit aufstrebenden Nationalismus in der Schweiz gleichkam, erhielten die Nationalmythen zusätzliches Gewicht. Die ursprünglich progressive Idee der Schweizer Nation erhielt nunmehr eine konservative Prägung. Der 1895 erfolgte Bau des Tell-Denkmals in Altdorf nach Plänen von Richard Kissling versinnbildlicht dieses nationale Pathos. Der Held steht mit Walter am Arm in einfacher Kleidung, aber heroischer Haltung vor einer ebenso idyllischen wie dramatischen Alpenlandschaft.
Besonders in den 1930er-Jahren bedurften die gemeinhin als eidgenössische Grundwerte verstandenen Institutionen Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie einer starken Absicherung nach innen, drohten doch die faschistischen und nationalsozialistischen Ideologien. Nationale Heldenmythen waren prädestiniert für die innere Festigung der Schweiz. In der Phase der Geistigen Landesverteidigung ab 1939 bedienten sich Politiker, Militärs und Kulturschaffende immer wieder Tells und anderer Mythen. Es verwundert nicht, dass, trotz einer vermehrten Kritik an der Nation Schweiz, Tell später auch von Kritikern des Realsozialismus und der Europäischen Union in Anspruch genommen wurde und wird. Zu verlockend scheint der kraftvolle Mythos eines Kämpfers für Freiheit und Unabhängigkeit.
Variabilität des Mythos
Sollten wir demnach dem negativen Mythenbegriff folgen, der den Mythos als etwas Invariables, Statisches und Absolutes zu erkennen glaubt? Die vielen Gesichter, die Wilhelm Tell über die Jahrhunderte hinweg getragen hat, verdeutlichen, dass auf den Mythos das exakte Gegenteil zutrifft.
Fixiert ist allenfalls ein sehr vager Kern: Das Narrativ des Meisterschützen aus alpin-bäuerlichen Verhältnissen, die Erklärung der eidgenössischen Freiheitsidee und die Reduktion der komplexen sozialen, politischen und rechtlichen Strukturen des Mittelalters auf ein Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten. Die Grundelemente des Mythos, die narrative, die erklärende und die reduktive Dimension, sind in diesem Kern also enthalten. Der Gebrauch des Mythos ist aber völlig offen. Ob Tell ein Volksheld, ein Förderer des nationalen Zusammenhalts, eine Legitimationsfigur staatlicher Unabhängigkeit, ein Freiheitskämpfer, ein Revolutionär, ein Klassenkämpfer, ein Tugendheld, ein Reaktionär, ein Tyrannenmörder oder ein Tyrannenmörder ist, hängt von der Gebrauchsweise des Mythos durch die jeweilige Person oder das jeweilige Kollektiv ab. Keinesfalls aber ist der Mythos etwas Statisches, wenngleich er meist als ewiggültig inszeniert wird. Auch entzieht sich der Mythos nicht der Auseinandersetzung, sondern ist vielmehr ein Mittel der Auseinandersetzung, auf das sich alle (auch die Kritiker) beziehen können. Ferner ist der Mythos nicht nur Ausdruck von Rückständigkeit, sondern bezeugt im Gegenteil auch den Willen zur Veränderung oder zur kritischen Bewältigung politischer Herausforderungen der Zukunft. Der Mythos ist auch nicht (nur) ein Herrschaftsinstrument der Mächtigen oder Opium fürs Volk. Der Mythos ist Allgemeingut. Und dabei handelt es sich um einen empirischen Schluss und nicht um ein normatives Postulat. Die Einsicht, dass es sich beim Mythos um ein variables, höchst adaptionsfähiges Allgemeingut handelt, dessen sich Politikerinnen, Künstler, Intellektuelle und Privatmenschen aller Couleur bedient haben und sich weiterhin bedienen, scheint gerade in der Debatte um die Schweizer Nationalmythen oft kaum vorhanden zu sein. Die bis heute nachwirkenden ideologiekritischen Ansätze der 1990er-Jahre (etwa die Beiträge des Sammelbandes «Auf wen schoss Wilhelm Tell?») hatten die vielfältige Rezeption der Nationalmythen sträflich vernachlässigt und die Mythen zu blossen ideologischen Konstrukten degradiert. Dass dies zu kurz greift, konnte anhand der Tell-Rezeption deutlich gezeigt werden. Einige Vertreter unseres Fachs täten gut daran, die Heldenmythen, statt ihre Instrumentalisierung durch vermeintliche Rechtspopulisten zu beklagen, in ihrer Variabilität zu erkennen.
Literatur