Was ist das eigentlich, eine Autobiografie? Und wie gestalten und verteidigen wir sie? Im Rahmen des Oral History-Projekts Archimob haben 555 Schweizerinnen und Schweizer ihr Leben erzählt: von den Kindertagen bis ins hohe Alter. Und dabei ihre Version der Schweiz im Zweiten Weltkrieg vermittelt. Eine kulturanalytische Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Geschichte nicht nur politisch, sondern immer auch persönlich ist.
Fulvio M. erzählt sein Leben: Mit tiefer Stimme und breitem Zürcher Dialekt. Er ist Secondo, ging als Jugendlicher an linke Demos und besuchte samstags die italienische Schule in Zürich. Dort erfuhr er von den Heldentaten des «Duce»: Für pünktliche Züge habe der in Italien gesorgt. Das sei ja gar nicht so schlecht gewesen – durchgedreht sei Mussolini erst in der Gesellschaft «vo sim dütsche Kolleg».
Als Fulvio M. 14 Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg. Er markierte die Manöver auf einer Landkarte in seinem Zimmer. Sonst interessierte er sich für «de Schatz», für Musik und fürs Kino. 1941 begann er eine Lehre bei der Firma Bührle: Anfangs wurde dort Werkzeug produziert, dann vor allem Kriegsmaterial. Herr M. sah die Rechnungen, die an das Oberkommando der Wehrmacht gestellt wurden. Extrem lukrativ sei das Geschäft gewesen: Jede Waffe hätten die Deutschen einem aus den Händen genommen. Egal, zu welchem Preis. Erste Nachrichten über die Judenverfolgung, die über Zeitungen, Bücher und Radio zu ihm durchdrangen, nahm er nicht so ernst. Deutschland habe ihn halt schon beeindruckt – ihn als geistigen Normalverbraucher – «wege de Propaganda natürli».
Ab 1942 hatte Fulvio M. durch den Landdienst Kontakt zu polnischen Flüchtlingen. In einer englischen Zeitung sah er Bilder von Konzentrationslagern. Beides veränderte ihn. Nun war er gegen die Nazis, sprang amerikanischen Soldaten nach. Am 8. Mai 1945 erfuhr er übers Radio vom Kriegsende: Er war bei der Arbeit, die Stimmung «schwiizerisch nüechtern».
Während Ella H. mit über achtzig von ihrem Leben berichtet, klingt sie wie ein junges Mädchen. Immer wieder schwärmt sie vom «liebe Vatter». Ihre Eltern hatten ein Geschäft für Nähmaschinen und Textilien in Baden. Ihre Schneiderlehre absolvierte sie ab 1934 «bi Dütsche», das sei eine Nazi-Familie gewesen. Sie selbst war unpolitisch, aber «anti», weigerte sich «natürli» gegen den Hitlergruss, mit dem sie in der Lehre in Berührung kam. Es habe damals viele Deutsche in Baden gegeben, viele Nazis. Und auch «vili mächtigi Jude», die ihre Eltern bei der Geschäftseröffnung schikaniert hätten. Trotzdem habe sie immer ein gutes Verhältnis «zu de Judechind» gehabt – alles «tiptop».
1938 verbrachte Frau H. ein Jahr in Paris, es war eine schöne Zeit. Sie erinnert sich an ein Fussballspiel, Schweiz gegen Deutschland, und daran, «wie mir die Dütsche abezwunge hend». 1939 heiratete sie – einen Nazi, wie ihr Vater sie warnte. Er sollte recht behalten. Doch dank dem Status ihres Mannes im blühenden Schwarzhandel konnte Ella H. «ganz dick» essen gehen. Mit ihm über den Nationalsozialismus reden, das konnte sie nicht. Als er zum Dienst eingezogen wurde, führte sie den gemeinsamen Laden allein.
Manchmal erfuhr Frau H. von jüdischen Flüchtlingen an der Grenze. Das regt sie noch heute auf: Essen habe es genug gegeben, aber reingelassen habe man die nicht, es seien ja alle Nazis gewesen in der Schweiz. Aber natürlich habe man auch Angst gehabt, dass die «Dütsche eus überrolled».
Wenn Hans D. auf sein Leben blickt, dann vermisst er die Zeit, in der ein «Fotzelcheib» wie Paul Grüninger bestraft wurde. Er ärgert sich sehr über Fragen zu einer schweizerischen Mithilfe am Krieg. Er sei überall dabei gewesen, und trotzdem könne jeder «drischnöre was er wott». Ihm, der 1921 als Sohn eines Bahnvorstehers geboren wurde, gefiel die militärische Ordnung. Mit elf Jahren ging er zu den Pfadfindern, wo die Mobilisierung geprobt wurde und frontistische Parolen die Runde machten. Er schimpfte gegen die Sozialisten und bespuckte ihre Fahnen am ersten Mai.
Als der Krieg begann, war Herr D. 18 Jahre alt. Alles war ein Abenteuer: Er bewachte den Gotthard und den Militärflughafen Dübendorf. Kaufte sich Erwin Rommels Buch zur Kriegsführung und war begeistert von General Guisans Reduit-Strategie. Dass deutsche Züge die Schweiz passierten, störte ihn nicht. Schliesslich hätten die Deutschen ja den Gotthardtunnel mitfinanziert, «da het mitem Chrieg nüt zdue gha». Nachrichten von Konzentrationslagern erreichten ihn zwar, aber grundsätzlich fand Herr D. es nicht schlecht, wenn man klar gegen Gegner vorging. Dass man Juden «angeblich plaget hät» findet er aber nicht gut, auch nicht das andere, was «dene angeblich söll passiert sii».
1943 heiratete Herr D. in seiner Uniform – die habe ihm immer Erfolg beschert «bide Fraue». Als er sie nach dem Krieg ablegte, vermisste er sie. Dafür wurde er dann Teil der Geheimarmee, von der die Öffentlichkeit erst Jahrzehnte später erfuhr.
Fulvio M., Hans D. und Ella H. – sie sind drei von insgesamt 555 ZeitzeugInnen, die um das Jahr 2000 ihre Lebensgeschichte im bisher grössten Oral History-Projekt der Schweiz erzählten. Es sind Geschichten von Krieg, Liebe, Arbeit, Alltag und Antisemitismus. Vor allem sind es Geschichten voller Widersprüche. Sie alle entstanden im Zusammenhang mit einer heftigen Diskussion um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (siehe Kasten).
Der Schweizer Geschichtsstreit in den 1990er-Jahren
Die Schweiz: Ein Land als Sinnbild der Neutralität, als Insel des Humanismus, entschlossen zum Kampf gegen den Faschismus? Dieses Narrativ wurde ein halbes Jahrhundert lang kaum infrage gestellt. Noch bei der Diamantfeier 1989 wurde die Mobilmachung der Schweizer Armee des Jahres 1939 mit Gedenkveranstaltungen, Wanderausstellungen und Veteranentagungen als nationale Bewährungsprobe zelebriert. Die 1990er-Jahre setzten diesem Geschichtsbild ein Ende: Sie waren geprägt von einem langwierigen Streit um nachrichtenlose jüdische Vermögen, um Aussenhandel, Flüchtlingspolitik und Antisemitismus.
Dieser Streit, der als Auseinandersetzung zwischen einigen Nachkommen jüdischer Kriegsopfer und den Schweizer Banken begonnen hatte, betraf bald auch grössere Fragen zur schweizerischen Flüchtlings- und Handelspolitik im Zweiten Weltkrieg. Bis Mitte der 90er-Jahre geriet er in den Fokus der internationalen und nationalen Öffentlichkeit. Unter grossem Druck beschloss die schweizerische Bundesversammlung schliesslich im Dezember 1996, eine ExpertenInnenkommission ins Leben zu rufen, deren Aufgabe es war, die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten. Als die Kommission ihr Fazit publizierte (den sogenannten Bergier-Bericht), kam es erneut zu heftigen öffentlichen Kontroversen. Insbesondere Soldaten der Aktivdienstgeneration fühlten sich durch die Entidealisierung der Schweiz angegriffen und sahen ihre eigene Lebensgeschichte infrage gestellt.
Der Verein Archimob wurde als Reaktion auf die wütenden Stimmen der Aktivdienstgeneration gegründet, die in der Debatte der 1990er-Jahre laut geworden waren. Er versuchte, die offizielle Geschichtsschreibung des Bergier-Berichts durch eine persönlichere, mündliche Ebene zu ergänzen: Ehemalige Soldaten und andere ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkrieges sollten die Gelegenheit erhalten, ihre eigene Version der Geschichte wiederzugeben. Sie wurden von den HistorikerInnen und FilmemacherInnen von Archimob interviewt und dazu angeregt, ihre Autobiografien möglichst frei zu erzählen. Die Geschichten reichten von der frühen Kindheit der Erzählenden bis in ihre Gegenwart, wobei die Kriegszeit am ausführlichsten besprochen wurde. Die Gespräche dauerten im Schnitt etwa zwei Stunden und wurden filmisch aufgezeichnet. Dabei stammten die ZeitzeugInnen aus der ganzen Schweiz, repräsentierten alle gesellschaftlichen Kontexte und spiegelten die ganze Bandbreite politischen Denkens. Auch ihre Aussagen über den Zweiten Weltkrieg sind von einer grossen Vielfalt bestimmt: Während manche schworen, es habe in der Schweiz niemanden gegeben, der mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hätte, berichteten andere mit grösster Selbstverständlichkeit von «Hitler-Bildli» und Mein Kampf-Ausgaben im Schulpult. Mit Blick auf ihre historische Aussagekraft lässt sich vor allem die Pluralität der Erzählungen feststellen – die Frage, «wie es damals wirklich war», beantworten sie nur bedingt.
Es mag mit dieser Tatsache zusammenhängen, dass die 555 Interviews zwar in zahlreiche Dokumentarfilme und eine Wanderausstellung verwandelt, aus wissenschaftlicher Sicht bisher jedoch kaum ausgewertet wurden. Eine Ausnahme bilden Studien im Zusammenhang mit dem KorpusLab der Uni Zürich, in deren Rahmen eine Auswahl der deutschsprachigen Interviews dialektologisch transkribiert und analysiert wurden.
In meiner Masterarbeit nähere ich mich den Archimob-Lebensgeschichten aus kulturlinguistischer Perspektive. Ich interessiere mich weniger für das Was als für das Wie der Erzählung. Konkret untersuche ich, welche narrativen Strategien die Archimob-ZeitzeugInnen einsetzten, wenn sie ihre Autobiografie einer potenziellen Bedrohung ausgesetzt sahen. Hinter dieser Fragestellung stehen einige Annahmen: Etwa die kulturanalytische These, dass es ein menschliches Grundbedürfnis ist, sich das eigene Leben in einer wie auch immer gearteten, aber kongruenten Erzählung vorzustellen. Oder die Annahme, dass ein so einschneidendes Erlebnis wie ein Krieg in diese Geschichte eingebettet wird – selbst dann, wenn er nur am Rande miterlebt wurde. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die ZeitzeugInnen sich so stark mit der eigenen Lebensgeschichte identifizierten, dass sie es als Bedrohung empfanden, wenn diese angezweifelt wurde – sei es durch die öffentliche Debatte, in der das Bild der Schweiz im Zweiten Weltkrieg heftig infrage gestellt wurde, oder durch kritische Fragen der InterviewerInnen. Und ich vermute, dass die ZeitzeugInnen dieser Bedrohung mit erhöhtem emotionalem Engagement und erzählerischen Strategien begegneten. Zu untersuchen, aus welchen sprachlichen Mustern diese Strategien bestehen, ist das Ziel meiner Arbeit.
Ich habe mich dazu entschieden, schwerpunktmässig auf einen eher formalen und einen eher inhaltlichen Aspekt einzugehen. Einerseits konzentrierte ich mich auf erzählerische Perspektivierungen, also den wechselnden Einsatz der ich-, wir-, du-/Sie- oder man-Erzählform. Andererseits habe ich die inhaltlichen Entpolitisierungen analysiert, die in heiklen Gesprächsmomenten zum Zug kommen.
Ich habe anhand einer Auswahl der Archimob-Autobiografien untersucht, in welchen Momenten welche Erzählperspektive bevorzugt zum Einsatz kommt. Bei der Analyse hat sich beispielsweise gezeigt, dass die Ich-Perspektive, die bei der Erzählung des eigenen Lebens meist vorherrscht, fast gar nie dazu eingesetzt wird, vergangene Handlungen und Haltungen zu schildern, die in der Gegenwart als problematisch beurteilt werden. Heikle politische Positionen, Wissen zur Grenzschliessung 1942 oder zum schweizerischen Handel mit dem Dritten Reich werden viel eher in der man- oder allenfalls der wir-Form erzählt. Diese Einbettung in ein Kollektiv wirkt normalisierend: «Me isch scho fasziniert gsi vode Dütsche», «Me het ned ganzi Waffe gmacht, nur Teili» oder «Mir hend ned vil gwüsst vo dene Jude».
Mittels der du-/Sie-Perspektive fordern die ZeitzeugInnen ihre GesprächspartnerInnen häufig dazu auf, sich in ihre Sicht hineinzuversetzen: «Do hesch keini Frage zstelle gha». Die Ich-Perspektive wiederum wird am ehesten dazu verwendet, Geschichten zu schildern, auf welche die Erzählenden mit Stolz zurückblicken, oder Charaktereigenschaften zu betonen, mit denen sie sich auch heute noch identifizieren: «Ich ha tobet geg das Nazitum» oder «Ich bi e Lingge gsi mis ganze Lebe lang».
Auch mit Blick auf die Entpolitisierungen habe ich vor allem Gesprächsmomente analysiert, in denen schwierige Themen wie eigene nationalsozialistische Sympathien, der Umgang mit Flüchtlingen oder (unterlassenes) politisches Engagement besprochen werden. Bei den Reaktionen der ZeitzeugInnen kann zwischen Argumentationen unterschieden werden, die das eigene Leben und Umfeld der Erzählenden entpolitisieren, und solchen, die die schweizerische Handels- und Flüchtlingspolitik im Ganzen als unpolitisch definieren. Bei ersteren betonen die ZeitzeugInnen beispielsweise ihre soziale Rolle, ihr junges Alter, ihre persönlichen Sorgen, oder sie heben ein spezielles Interesse hervor: «Ich als Frau ha Politik sowieso ned verstande» oder «Ich als junge Bursch hami natürli meh fürs Kino interessiert». Ihr (Nicht-)Handeln und Denken erscheint in diesen Geschichten als natürlich und alternativlos.
Die Entpolitisierung der schweizerischen Handels- und Flüchtlingspolitik funktioniert unter anderem über eine narrative Bagatellisierung des schweizerischen Zutuns am Kriegsgeschehen, über die Betonung des neutralen Status der Schweiz oder über die erzählerische Konzentration auf wirtschaftliche Notwendigkeiten: «Es isch lächerlich zsäge, dass dSchwiiz de Chrieg verlängeret het – weg dem bizeli wo das chline Schwiizli gmacht het!» oder «Es isch richtig was de Bundesrat gmacht het, mir hend ja ned gnueg z Esse gha für die Jude». Damit negieren sie den politischen Anteil der staatlichen Handlungen während des Krieges.
Die ausgewählten Zitate sollen nicht in die Irre führen: Es geht mir nie darum, die ZeitzeugInnen zu entlarven oder ihre Geschichten zu bewerten. Wenn die narrativen Strategien, mit denen sie schwierigen Fragen und Themen begegnen, analysiert werden, dann nicht, um sie zu überführen oder anzuklagen. Dies mag das Ziel von historischen oder juristischen Untersuchungen sein, die sich mit Fragen von Schuld oder Verantwortung auseinandersetzen. Das Ziel einer kulturlinguistischen Arbeit ist es sicher nicht. Ich möchte viel eher erkennen und beschreiben, wie die ZeitzeugInnen die Vergangenheit im Jetzt zu einer Lebensgeschichte zusammenfügen, und welche Strategien sie bei der narrativen Verteidigung ihrer Geschichte einsetzen. Dass diese erzählerischen Strategien Regelmässigkeiten aufweisen, die von der politischen Gesinnung der Erzählenden ganz unabhängig sind, ist interessant.
«Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Max Frisch formulierte diese Worte einst für seinen Helden Theo Gantenbein. Er traf damit ins Herz der heutigen Kulturtheorie, die das Erzählen als Praxis zur Herstellung der biografischen und soziokulturellen Welt betrachtet. Mit ihrer Eigenart, Ereignisse auszuwählen, wegzulassen, kausal zu verknüpfen und in eine Reihenfolge zu stellen, ist die Erzählung nicht bloss ein Abbild, sondern auch eine Konstruktion der Wirklichkeit. Für die autobiografische Erzählung, mit der unser Selbstbild auf ganz besondere Art und Weise verknüpft ist, gilt das in besonderem Masse.
Und wenn daraus folgt, dass die erzählten Autobiografien eher wenig Sicheres über die historische Wirklichkeit vermitteln und vor allem die mündliche Selbstkonstruktion als Untersuchungsobjekt übrigbleibt, so sollte dies nicht als Mangel gesehen werden. Denn die Her- und Darstellung der Autobiografie sagt sehr viel über die Kultur und den historischen Kontext aus, in dem sie entsteht: In der Verbindung von subjektiver Perspektive und geschichtlichem Inhalt, der Beeinflussung durch aktuelle Diskursstrukturen und der Fokussierung auf die Ebene der einzelnen Menschen liegt der Reiz ihrer Erforschung begründet.
Weitere Informationen zum Archimob-Projekt finden sich hier.
Zur Autorin
Lisa Gnirss studierte Geschichte sowie Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. 2019 schliesst sie ihre Masterarbeit bei Prof. Dr. Angelika Linke ab. Einen Einblick in die Arbeit präsentiert der vorliegende Artikel.
Hinweis: In der Arbeit selbst wurden die Auszüge aus den Quellen nach linguistischen Standards transkribiert und analysiert, wodurch Betonungen, Pausen, stimmliche Emotionalität und viele weitere Aspekte des mündlichen Sprechens sichtbar werden. In diesem Artikel wird aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Transkriptionsform verzichtet.