Eine neue Art zu denken, die Entstehung der modernen Wissenschaft und die Rolle des freien Marktes: Der Mittelalter-Historiker Joel Kaye über einen Umbruch, der von unten kam, die Angst davor – und darüber, was das alles mit heute zu tun hat.
[You can find an English version of this interview here.]
Ein Handy besitzt er nicht, aber mit Kommunikation hat er trotzdem kein Problem. Joel Kaye, Professor am Barnard College in New York, hebt mit leuchtenden Augen die Hände und ruft: «Aristotle!». Aristoteles hat es dem Spezialisten für Wirtschafts- und Wissensgeschichte des Mittelalters angetan – und seine Begeisterung ist ansteckend. Kaye, der vor seiner akademischen Laufbahn über zwölf Jahre als Schreiner arbeitete, argumentiert so sorgfältig und anschaulich, als habe er das Tischlern nie aufgegeben. Lieber als über sich spricht er jedoch über seine zentrale Forschungsthese: dass nämlich die Entstehung eines in Ansätzen freien Marktes im Mittelalter den Grundstein legte für das moderne wissenschaftliche Denken.
Etü: Der Ursprung der modernen Wissenschaft wird oft in der Renaissance oder Aufklärung gesucht. Sie vertreten eine andere Sicht. Müssen wir die Anfänge der modernen Wissenschaft im Mittelalter suchen?
Joel Kaye: Historiker sind ziemlich misstrauisch geworden gegenüber der Ansicht, man könne in der Vergangenheit die Richtung der Geschichte erkennen. Mit dieser Ansicht liest man einen telos – einen fixen Zweck – in die Geschichte, den es wahrscheinlich so nicht gibt. Die Geschichte hätte unzählige verschiedene Verläufe nehmen können. Andererseits sind wir ja irgendwie vom Mittelalter zur Gegenwart gelangt – und dieser Weg verlief nicht zufällig. Und so finden wir bei einem Blick ins Mittelalter tatsächlich schon damals wissenschaftliche Konzepte, die dann im 17. bis 19. Jahrhundert ausformuliert werden.
Es gibt also Spuren mittelalterlichen Denkens in der modernen Wissenschaft?
Im Mittelalter entstand etwas, das ich den «neuen Relativismus» nenne – die Fähigkeit, die Welt mithilfe von relativen Systemen wahrzunehmen und zu begreifen. In der Zeit vor dem späten 13. und 14. Jahrhundert war die Welt in der Wahrnehmung der Menschen um ein einziges Prinzip geordnet – eine fixe göttliche Ordnung. Menschen, andere Tiere, Pflanzen, Steine – alles wurde so als Teil einer Hierarchie gesehen, die nach Gottes Plan geschaffen wurde. In der Mitte des 13. Jahrhunderts begannen Intellektuelle langsam, den Kosmos anders zu sehen – als relativiertes System.
Das klingt reichlich abstrakt. Was bedeutete dieser Wandel in der Praxis?
Ein Beispiel: Antike Autoritäten wie Aristoteles oder Ptolemäus dachten, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, um den sich die Sonne und alle anderen Planenten drehen. Die Erde selbst bewege sich nicht. Die banale Idee hinter dieser Ansicht war: Wir würden es doch merken, wenn die Erde sich dreht. Wir würden den Wind im Gesicht spüren und wenn wir einen Gegenstand in die Luft werfen, würde er nicht am selben Ort wieder hinunterfallen. Mittelalterliche Denker begannen aber, sich zu fragen: Ergibt es nicht mehr Sinn, wenn sich das winzige Ding in der Mitte dreht und nicht das gesamte Himmelsgewölbe? Die Sterne müssten sich doch unglaublich schnell drehen, um die Erde in vierundzwanzig Stunden zu umkreisen. Sie vollbrachten diesen gedanklichen Sprung, weil sie sich vorstellen konnten, vom Himmel auf die Erde zu schauen – weil sie die eigene Perspektive zu einer anderen in Relations setzen konnten. Diese Fähigkeit zum Perspektivenwechsel war eine der grössten Errungenschaften der christlichen Kultur des Mittelalters. Wir müssen aber aufpassen, dass wir solche Errungenschaften nicht nur mit einzelnen Denkern assoziieren. Dahinter steckt immer die Kultur.
«Jetzt denken Sie wie Historiker!»
Was war denn so speziell an der mittelalterlichen Kultur? Was machte diese Veränderung möglich?
Das sine qua non dieses neuen relativierten Denkens war die Wirtschaft – und vor allem der Markt. Da die Vorstellung eines streng hierarchischen Kosmos tief im christlichen Denken verankert war, brauchte es etwas ziemlich Aussergewöhnliches, um sie zu verändern. Der Einfluss dafür ging vom Markt aus. Im christlichen Denken hat jedes Wesen einen festen Platz im göttlichen Plan. Im Markt jedoch hat nichts einen fixen Wert. Wenn Sie mit Agrarprodukten handeln, können die Produkte jeden Tag einen anderen Wert haben. Alles hängt vom Kontext ab. Die Scholastiker leben also auf einmal in einer Welt, in der die Bedürfnisse des Menschen den Wert einer Sache bestimmen – und sich diese Bedürfnisse ständig verändern.
Interessant, dass diese Idee einer neuen Relativität in einem kirchlichen Umfeld entstand, da sie doch der christlichen Idee des Absoluten direkt widersprach.
Es ist tatsächlich komisch! Diesen Widerspruch sieht man sehr schön in einem berühmten mittelalterlichen Text, der «Cosmographia». Es ist eine komplett naturalistische Geschichte über die Entstehung des Universums, die im 12. Jahrhundert dem Papst vorgelesen wird. Und doch kommt die biblische Genesis darin kaum vor. Es gab also Raum für solche Gedanken – eine überraschende Offenheit in der kirchlichen Gesellschaft, die bis zur Zeit der Gegenreformation anhält. Nehmen Sie Aristoteles! Sein Einfluss auf die mittelalterlichen Universitäten war riesig – und das zu einer Zeit, in der die Universität das Kronjuwel der Kirche war. Können Sie sich heute eine christliche oder jüdische Universität vorstellen, die einen heidnischen Denker ins Zentrum des Studiums rückt?
Es gab also einen echten Markt der Ideen, in dem sich die besten durchsetzten?
Zweifellos. Aristoteles’ Ideen waren nicht nur die besten. Sie waren so gut, dass Intellektuelle sich sagten: Ich kann sie nicht aufgeben. Ich muss einen Weg finden, sie mit dem Christentum zu vereinbaren. Andere Kulturen – der Islam, das Judentum – haben dasselbe versucht, aber dort gab es starke reaktionäre Kräfte, die solche Bestrebungen im Keim erstickten.
Es war also genau die interne Schwäche Europas, die eine solche Offenheit zuliess.
Sehr gut! Jetzt denken Sie wie Historiker.
«Die Professoren machten die ganze administrative Arbeit! Sie mussten Steuern einziehen, die Buchhaltung machen und sogar das Essen besorgen.»
In Ihrem Buch Economy and Nature in the Fourteenth Century vertreten Sie die These, dass die Veränderungen in der Wissenschaft des 14. Jahrhunderts ein Produkt der Monetarisierung Europas war. Welche Rolle spielte Geld für diese neue Art, über die Welt zu denken?
Es spielte verschiedene Rollen. Die zunehmende Verstädterung steckt sicher hinter dem Wandel zum relativistischen Denken. Sie war teils demographisch, teils klimatisch, betraf aber auch die Haltung der Menschen. Im 10. Jahrhundert gab es noch keine europäische Stadt, die die Bezeichnung verdiente. Im 11. sind es ein Duzend und im 13. hunderte. Historiker nennen diese Entwicklung die kommerzielle Revolution des 13. Jahrhunderts.
Und vor dieser Revolution brauchte man Geld nicht wirklich?
Menschen brauchten immer schon Geld, aber eben nur selten. Besonders interessant ist, dass Geld einen guten Ruf hatte, als man es noch kaum brauchte. Wer reich war, galt als von Gott begünstigt. Wenn man sich aber die plötzliche Verbreitung von Satiren über Bestechlichkeit und Reichtum anschaut, die im 11. Jahrhundert fast zeitgleich mit der kommerziellen Revolution entstanden, sagen die Leute auf einmal Dinge wie: «Geld stellt alles auf den Kopf», «Geld stellt den Lügner über den Rechtschaffenen» oder «Habgier ist die Wurzel allen Übels». Es kommt eine unglaubliche Angst vor der Macht des Geldes auf. Die Wirtschaft funktionierte schliesslich nach Prinzipien, die den christlichen Werten direkt widersprachen.
Die wirtschaftliche Realität beeinflusst unser Denken – das tönt irgendwie marxistisch…
Jeder Historiker ist ein Marxist! (lacht) In einem gewissen Sinn gibt es viele marxistische Elemente in meiner Arbeit. Es ist nämlich wichtig zu sehen, dass die damaligen Intellektuellen nicht von der Welt getrennt lebten. Die Universitäten befanden sich mitten in der Stadt. Und alle Personen, die ich mit dieser neuen Denkart verbinde, waren auch Verwalter der Universitäten. Die Professoren machten die ganze administrative Arbeit! Sie mussten Steuern einziehen, die Buchhaltung machen und sogar das Essen besorgen. Sie mussten sich also etwa der wechselnden Preise bewusst sein…
…und man muss kein Marxist sein, um hier einen Einfluss des wirtschaftlichen Lebens auf das wissenschaftliche Denken auszumachen.
Genau. Aber klar: Die gelebte Erfahrung beeinflusst die Entstehung von Ideen – das ist eine marxistische Haltung.
«Der Hunger nach Wissen war entscheidend – und der ist charakteristisch für die christliche Kultur des Mittelalters.»
In Ihrer Forschung geht es nur um europäische Geschichte. Die Wissenschaftsgeschichte war aber schon immer eine Geschichte des Transfers durch Netzwerke und über verschiedene Regionen hinweg. Genügt es, nur die europäische Geschichte zu betrachten, wenn man die Entstehung der modernen Wissenschaft verstehen will – oder braucht es auch für das Mittelalter eine globale Wissenschaftsgeschichte?
Wenn wir uns die Zeit anschauen, in der die intensive Auseinandersetzung mit der Wissenschaft beginnt, war der Einfluss der islamischen Kultur enorm. Das Übersetzungsprojekt von Schriften der Astrologie, Geographie oder Medizin aus dem Arabischen ins Latein ist extrem wichtig für die wissenschaftliche Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert. Aber für mich ist der Hunger nach diesem Wissen entscheidend, der charakteristisch ist für die christliche Kultur des Mittelalters. Ich frage meine Studenten immer: Als Toledo während der Reconquista fiel – was denkt ihr, machten die christlichen Soldaten, als sie die Bibliothek der Stadt mit ihren tausenden von Büchern entdeckten? Und sie sagen immer: Sie brannten sie nieder. In der Annahme, diese Kultur müsse anti-intellektuell sein. In Wahrheit aber begannen die christlichen Gelehrten sofort, die Texte auf Latein zu übersetzten. Im 12. Jahrhundert übersetzten sie hunderte der grossen Werke der griechischen und islamischen Wissenschaft. Das ist für mich das Unglaubliche. Ich gab einmal ein Seminar mit einem Spezialisten für die islamische Wissenschaftsgeschichte und fragte ihn: Wie viele Werke wurden in dieser Zeit des Wandels vom Latein ins Arabische übersetzt? Er sagte, er kenne kein einziges.
Sie sagen also, dass Europa ein besonderer Ort war, weil es dort diesen Hunger gab?
Nicht einmal das. Aber offensichtlich fanden diese Entwicklungen in Europa statt und sie nahmen in dieser Kultur in den folgenden Jahrhunderten bestimmte Formen an. Ich habe also kein Problem damit, von der modernen Wissenschaft als einem Produkt der europäischen Kultur sprechen – mit dem Vorbehalt, dass sie in den Anfängen stark von islamischen Ideen beeinflusst wurde.
«Die Frage ist doch: Weshalb hat sich die europäische Kultur durchgesetzt?»
Zu etwas anderem: Welche Rolle spielt die Geschichte des europäischen Mittelalters eigentlich an US-amerikanischen Universitäten?
Sie ist viel wichtiger, als man denkt. Und zwar nicht nur an den grossen Universitäten und den liberal arts colleges. Wir haben auch viele katholische Unis, an denen die mittelalterliche Geschichte ein wichtiges Thema ist.
Warum ist das so?
Weil es sinnlos ist, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu studieren, wenn man nichts über die Zeit davor weiss. Man hätte ein völlig verzerrtes Bild davon, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute sind.
Zu Beginn des Gesprächs warnten Sie davor, sich teleologische Fragen zu stellen. Aber ist nicht die Dominanz der europäischen Geschichte selbst ein Beispiel für telelogisches Denken? Die europäische Kultur hat sich schlussendlich durchgesetzt und deshalb messen wir ihrer Geschichte nun nachträglich eine erhöhte Bedeutung zu.
Die Frage ist doch: Weshalb hat sie sich durchgesetzt? Was gab ihr die Kraft, sich gegenüber viel älteren und weiseren Kulturen und Zivilisationen zu behaupten? Das ist eine Frage, die man sich wirklich stellen muss. Zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kann man die Entwicklung der Wissenschaften mit Blick auf Europa nachzeichnen. Ausserhalb der Wissenschaftsgeschichte oder wenn man bis ins 21. Jahrhundert geht, kommen andere Kulturen ins Bild. Aber Historiker haben nun mal eine begrenzte Kapazität. Hundert Jahre intellektuelle Entwicklung in Europa kann ich gerade noch so begreifen, um darüber etwas Substanzielles zu sagen. Ich wäre nie im Stande die islamische und chinesische Geschichte im gleichen Mass zu durchdringen. Wenn ich einmal in Pension gehe, sollen sie lieber einen Mittelalterhistoriker für die chinesische, islamische, südamerikanische oder europäische Geschichte anstellen – und nicht jemanden, der alles gleichzeitig machen will. Das geht nämlich nicht.
«Wir denken immer noch, dass Technologie nur Gutes bringt. Aber irgendwann beginnt sie, sich gegen uns zu richten.»
Wenn Sie sich die Welt heute anschauen, sehen Sie wirtschaftliche Entwicklungen, die einen ähnlich tiefgreifenden Einfluss auf unsere Sicht der Welt haben könnten wie die Veränderungen im Mittelalter?
Absolut. So werden viele Entwicklungen in der heutigen Marktwirtschaft – beispielsweise beim technologischen Wandel – im Grunde von etwa zwanzig Konzernen gelenkt. Erinnern wir uns: Im Mittelalter waren die Scholastiker völlig fasziniert von der Tatsache, dass der freie Markt funktionierte. Niemand lenkte ihn! Er funktionierte ohne Zentrum und ohne Herrscher, nur durch das Zusammenspiel der Gemeinschaft.
Und Sie meinen, dass wir heute wieder zu einem hierarchischeren System zurückkehren.
Genau das sage ich. Denken Sie an künstliche Intelligenz: Durch sie werden Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren. Diese Entwicklung kommt offensichtlich von oben – sie richtet sich nicht nach den Bedürfnissen der Gemeinschaft. Wir denken immer noch, dass Technologie nur Gutes bringt. Aber irgendwann beginnt sie, sich gegen uns zu richten.
Im Sommer 2019 werden Sie bei den Schweizerischen Geschichtstagen in Zürich zum Thema «Reichtum» vortragen. Was bedeutete es im Mittelalter, reich zu sein?
Es gab eine Zeit, da hiess reich sein schlicht gut sein. Die Mächtigen rechtfertigten ihren Reichtum als Belohnung von Gott für ihre Tugend. Doch dann sieht man plötzlich Händler und Leute aus unteren Gesellschaftsschichten, die auch reich werden. So reich, dass sie Ländereien der Adligen aufkaufen können. Ab diesem Punkt wird Reichtum zum Problem. Die Leute bekommen Angst, dass dieses neue Bedürfnis die Gesellschaft zerreissen wird. Und das tut es auch. Sie hatten recht, Angst zu haben.