Siedlerkolonialismus, Genozid und schwarze Ziegen – Historische Zugänge zum Nahostkonflikt

Ausschnitt des offiziellen Veranstaltungsplakats. Design: Julia Ambroschütz

Die Veranstaltungsreihe „The Law of the Land“ des Historischen Seminars lud in vier Sitzungen dazu ein, offen über den Nahostkonflikt zu diskutieren. Die Teilnehmer:innen wurden dabei nicht nur mit kontroversen Meinungen konfrontiert, sondern auch mit ungewohnten Perspektiven auf ein umkämpftes Land.

Wie breit und facettenreich der Nahostkonflikt ist, zeigte sich bei der Veranstaltungs-Serie «The Law of the Land?», die das Historische Seminar zwischen dem 3. und 14. November durchgeführt hat. Das HS reagierte damit auf das Bedürfnis zahlreicher Studierender, sich auch im akademischen Rahmen über den Konflikt in Nahost auszutauschen. Der erste Teil der Reihe suchte den Zugang zum Thema durch das internationale Recht und Begriffe wie «Genozid» und «Siedlerkolonialismus» zu erschliessen. Der zweite Teil näherte sich der Thematik über land- und forstwirtschaftliche Nutzungskonflikte in Israel/ Palästina an. Beide Teile hatten den identischen Aufbau und bestanden aus einer seminarähnlichen reading session mit den eingeladenen Forschenden und einer Podiumsdiskussion.

Den Anfang machte die reading session und die Podiumsdiskussion mit Lena Salaymeh und Itamar Mann über internationales Recht im Kontext des Nahostkonflikts. Beide haben einen juristischen Hintergrund und stammen aus Israel. Mann beschäftigte sich vor allem mit Problemen im Umgang mit internationaler Strafverfolgung, speziell beim ICC (Internationaler Strafgerichtshof). So könne der ICC nur Verbrechen verfolgen, die auf dem Territorium eines Mitgliedstaates begangen wurden. Da Palästina aber kein international anerkannter Staat sei und deshalb auch nicht Mitglied beim ICC, können Verbrechen in den palästinensischen Gebieten nur sehr schwer verfolgt werden. Indem Israel Palästina die Staatlichkeit vorenthält, könne es sich vor Klagen schützen. Ebenfalls problematisch sei die Kategorie «Genozid», da diese rechtlich sehr eng gefasst sei, eine Kritik die auch Salaymeh teilte. Neben konkreten Taten sei auch relevant, dass eine Absicht zur Auslöschung der Volksgruppe bestand, was in der Realität äusserst schwer zu beweisen sei. Nach Mann hat das internationale Rechtssystem dennoch einen entscheidenden mässigenden Einfluss auf das Verhalten der Konfliktparteien und er wertet es deshalb eher positiv.

Anders als Mann betrachtet Salaymeh das internationalen Rechtssystem in einem grösseren Kontext und sie sieht darin auch ein Mittel, um bis heute koloniale Verhältnisse auf der ganzen Welt aufrechtzuerhalten. Nach dem Kolonialismus sei es nie zu einer Dekolonialisierung und einer Zeit des Postkolonialismus gekommen. Vielmehr sei der Kolonialismus durch den Neokolonialismus verschleiert worden, was ihn nicht weniger grausam mache. Die Staatsgründung Israels und dessen internationale Anerkennung ist ihr zufolge Ausdruck davon, dass die internationale Rechtsordnung vor allem koloniale Interessen schützt. Der Zionismus, der Israel 1948 hervorgebracht hat, betrachtet sie als siedlerkolonialistische Bewegung. Auch in Bezug zur internationalen Strafverfolgung konstatierte sie, dass das internationale Recht generell nicht zu weniger brutalen oder tödlichen oder schon nur zu weniger Kriegen geführt habe. Auch kritisiert sie die Kategorie des «Terroristen», da sie darin eine Kontinuität vom früheren «Barbaren» sieht. Dem antikolonialen Feind solle so die Menschlichkeit abgesprochen werden.

Der erste Teil der Serie «The Law of the Land» brachte eine spannende und durch die stark verschiedenen Positionen eine energische Diskussion hervor. Es war allerdings nicht immer einfach, den Argumenten zu folgen, da oft der Eindruck entstand, als würden die beiden Redner*innen nicht über dasselbe Thema sprechen. Itamar Mann konzentrierte sich mehr auf Details, Lena Salaymeh bewegte sich eher im grösseren Kontext. Der Gegenstand der Diskussion war insofern nicht ganz klar. Ging es um Staatlichkeit und die israelische Staatsgründung als Völkerrechtliches Ereignis oder ging es eher um Kriegsverbrechen und internationale Strafgerichtsbarkeit?

Etwas mehr als eine Woche später fand der zweite Teil der Serie mit den Historikerinnen Tamar Novick (Podiumsdiskussion und reading session) und Falestin Naïli (nur Podiumsdiskussion) statt. Die Veranstaltungen trugen den Titel «Resource Use and Imaginaries of the Land» und fokussierten sich auf die Urbarmachung der Wüste und koloniale, rassistische und ethnologische Diskurse, die sich dabei offenbarten. Naïli betonte die politischen und ökonomischen Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts die Region veränderten. Unter osmanischer Herrschaft sei es zum Beispiel unüblich gewesen, Land zu besitzen. Es wurde stattdessen vom Staat verpachtet und ging nach Ablauf der Vertragsdauer wieder zurück an die Öffentlichkeit. Dies begann sich mit dem wachsenden britischen Einfluss zu ändern, privater Landbesitz wurde üblicher.

Novick und Naïli untersuchten in ihren Nachforschungen beide das palästinensische Dorf Artàs neben Bethlehem. Der Ort, in dem lange die Solomonischen Gärten vermutet wurden, durchlief zwischen 1940 und 1980 eine rasche Transformation. In nur 40 Jahren verschwand die Wüste aus Artàs und an ihre Stelle traten Wälder, Felder und Gärten. Dieser Prozess fand in ganz Israel statt und führte teils zu heftigen Konflikten mit der (arabischen) Lokalbevölkerung. Die Motivation hinter diesen Aufforstungs- und Bewässerungsprojekten lieferte die Bibel, in der der Nahe Osten als fruchtbares Land erscheint, in dem Milch und Honig in Strömen fliessen. Britische und jüdische Beamte nahmen dies zum Anlass, davon auszugehen, das Land sei natürlicherweise bewachsen. Auf die Frage nach der Wichtigkeit dieser Ideologie antwortete Novick, sie hätte einen starken Einfluss auf die ökonomische Entwicklung gehabt. Auch die Perspektive auf die Natur und deren Ressourcen seien durch diese ideologische Grundlage bis heute geprägt. Die Konflikte, die aus diesem Selbstverständnis erwuchsen, nutzte Novick als Zugang um mehr über westlich-israelisches Denken gegenüber der arabischen Bevölkerung zu erfahren.

In den 1950er Jahren fanden zahlreiche Petitionen der arabischen Bevölkerung ihren Weg zur israelischen Regierung. Darin forderten sie, den restriktiven Umgang mit schwarzen Ziegen zu lockern. In den Jahrzehnten davor versuchten englische und israelische Behörden immer wieder, die arabischen Ziegenherden in den Griff zu kriegen, die ihrer Ansicht nach für den unfruchtbaren Zustand des Landes verantwortlich waren. Die Ziegen frassen junge Bäume und Büsche und standen so einer Aufforstung im Wege. Einzelne britische Beamte sahen die Verantwortung für die Wüste im Heiligen Land gänzlich beim arabischen Volk und seinen Ziegen, wie das ein Gouverneur 1934 zum Ausdruck brachte: «It was a misnomer to describe the Arab as the ‘Son of the Desert.’ He was really the ‘Father of the Desert.’». Die schwarzen Ziegen wurden damit zu einer Metapher für den arabischen Menschen. Sie seien stur, eigenwillig, unzivilisiert und geradezu dumm. Die weissen, aus Europa importierten Ziegen, welche auf jüdischen Höfen zu finden waren und nicht offen grasten, wurden als intelligent, kultiviert und anständig betrachtet.

Die israelischen Behörden verhinderten durch weitläufige Einzäunungen das wilde Grasen und setzten dann in einem zweiten Schritt zur Vernichtung der ganzen Population an. Für die arabische Bevölkerung war das ein Problem, da die Ziegen den Grossteil der Milchversorgung stellten. Auch das Vorgehen der israelischen Regierung, die Ziegen nach einem festen Schlüssel mit Schafen und Kühen zu ersetzen, stiess auf heftigen Widerstand. Heute gibt es in Israel kaum mehr schwarze Ziegen und bis heute geniesst die Milchindustrie in Israel ein aussergewöhnlich hohes Ansehen, schliesslich lässt sie zumindest die Milch fliessen im Gelobten Land.

Der im zweiten Teil gewählte Gegenstand mit dem Konflikt um Ziegen bot einen sehr ergiebigen Einblick ins israelisch-westliche Denken gegenüber dem Nahen Osten und dessen Bevölkerung. Im Gegensatz zum ersten Teil war es einfacher, den Argumentationen der Forschenden zu folgen und auch das Thema war klarer umrissen. Die Reihe soll im Frühlingssemester weitergeführt werden, die Themen und eingeladenen Gäste sind noch nicht bekannt.