Manchmal müssen Statuen von Kolonialisten und Rassisten fallen. Manchmal kann es aber auch ehrlicher sein, sie stehen zu lassen – und dafür ihre Bedeutung zu verändern. Das wichtigste bleibt die Debatte darüber, wofür eine solche Statue steht.
Vor etwas mehr als vier Jahren lebte ich in einem Gebäude, das nach einem Kolonialisten benannt war. Das «Rhodes Building» des Oriel College in Oxford war altehrwürdig und frisch renoviert, als ich dort ein Zimmer bezog. Gebaut worden war es mit dem Geld eines Mannes, der im heutigen Simbabwe (vormals: Rhodesien) abscheuliche Verbrechen begangen hatte. Verbrechen, für die er nicht erst heute, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten kritisiert wurde.
Vor etwas mehr als vier Jahren hörte ich aus meinem Zimmer ferne Rufe. Vor meinem Fenster hatte sich eine ansehnliche Gruppe Protestierender versammelt. Sie forderten die Umbenennung des Hauses und die Entfernung einer Statue an deren Fassade. «Rhodes Must Fall», eine Bewegung mit Ursprung in Kapstadt, hatte auch in Oxford Fuss gefasst.
Vor etwas mehr als vier Jahren überlegte ich kurz, blickte zu meinen GeschichtsprofessorInnen, die aus sicherer Entfernung den Protest beobachteten, und gesellte mich schliesslich zu den Demonstrierenden. Ich hatte in wenigen Monaten genug über die britische Oberschicht gelernt, deren Werte sich in Oxford in Reinform spiegeln, um zu wissen: Die koloniale Vergangenheit war alles andere als a thing of the past. Eine Cocktailparty zum Thema «Colonial Comeback», krasse Untervertretung von People of Colour in der Professorenschaft – ich hatte die Berichte und Statistiken gelesen.
In den folgenden Wochen wurde einer der drei Eingänge des Colleges verriegelt – aus Furcht vor Demonstrierenden. Ich wurde an der Pforte immer öfter kontrolliert – «Are you Oriel?». Ich sagte Ja und fühlte mich eingesperrt. Die GeschichtsprofessorInnen – kluge und überlegte Menschen, ihrer Institution keineswegs voll ergeben – organisierten ein ratloses Treffen zur Statuenfrage. Drei Studierende kamen, wir erhielten eine Bibliographie zu Rhodes und nicht viel mehr.
Mittagessen in der Mensa – holzgetäfelt, hoch wie ein Kirchenschiff und mit lauter Männerköpfen in Öl an der Wand – wurden ungemütlich. Einige schimpften über die Proteste, andere schwiegen. Die meisten Protestierenden kamen aus anderen, weniger konservativen Colleges. Ich getraute mich nur einmal, etwas zu sagen. «Are you trying to whitewash history?», wurde ich gefragt. Ob ich durch die Entfernung der Statue eines Rassisten, der den Tod unzähliger schwarzer Menschen verantwortete, die Geschichte «weisswaschen» wolle.
Nein, das wollte ich nicht. Eine Statue, sagte ich, ist keine Geschichtsschreibung. Es ist keine Debatte, kein kritisches Reflektieren. Sie ist Feiern und Inszenieren, sie ist ein politisches Statement, ein Versuch, unsere kollektive Erinnerung zu formen.
Und eine Inszenierung kann man beenden, ein politisches Statement ändern, die kollektive Erinnerung öffnen für alle, die nicht reich und mächtig genug waren, sich aus Gips und Sandstein ein Monument zu setzen.
Ich wollte, dass die Statue fiel.
Viele wollten das, zuvorderst die ProtestführerInnen, die mit ihrer Aktion die wichtige Debatte um die britische Erinnerungskultur erst ermöglicht hatten. Aus ihrem Newsletter konnte ich die Argumente und Formulierungen ziehen, die mir am Mittagstisch zu oft fehlten und die mir auch die Bibliographie der Professoren nicht gaben. Und zunächst war auch das College einer Diskussion mit offenem Ausgang nicht abgeneigt – bis sich reiche und konservative Geldgeber querstellten.
Die Statue blieb, die Proteste flauten ab, es blieb nichts als ein Zettel mit ein paar Worten zu Rhodes Leben und Taten, unter der Statue in ein Fenster geklebt. Ein Vertreter des Colleges unterstützte gar den Versuch, eine unkritische Plakette zu Rhodes’ Ehren an derselben Fassade unter Denkmalschutz zu stellen (die Statue selbst ist als Teil des Gebäudes bereits denkmalgeschützt).
Und jetzt das: Im Zug der weltweiten «Black Lives Matter»-Proteste kommt die alte Forderung wieder auf. Rhodes soll wieder fallen, fordern Demonstrierende in Oxford – wie so viele Statuen an so vielen Orten in England, den USA, weltweit. Für sie sind die Statuen und die Weigerung, sie zu entfernen, ein Symbol für Rassismus im Alltag, auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik. Und deren Fällung ein Weg, darauf aufmerksam zu machen, weitergehende Forderungen aufs Tapet zu bringen.
Aber muss Rhodes dafür fallen?
Vielleicht muss er. Es gibt keinen zwingenden Grund – sicher keinen historischen –, dass er bleiben müsste. Wenn, dann wäre seine Entfernung die Korrektur einer lange sehr einseitigen Erinnerungskultur – das Gegenteil einer Verzerrung. Es wäre auch nicht der Beginn einer Säuberungsaktion des öffentlichen Raums, wie manche befürchten. Wenn eine Statue fallen kann, heisst das schliesslich nicht, dass alle fallen müssen.
An diversen Orten, etwa in den USA, sind bereits welche gefallen. Viele davon von Sezessionsgenerälen, viele lange nach dem Unabhängigkeitskrieg errichtet – als Teil einer rassistischen Politik der Ausgrenzung, die schon deshalb nichts mit objektiver Geschichtsschreibung zu tun hat, weil sie bis heute andauert. Auch Rhodes ist Ausdruck einer solchen Politik – und als solcher kann er fallen.
Aber soll er auch? Das frage ich mich, seit ich vor vier Jahren kurz nach meiner Rückkehr aus Oxford in die Schweiz mit einem hiesigen Historiker darüber sprach. Er – ein alter Linker, der Bücher über Ausgegrenzte geschrieben und für ihre Rehabilitierung gekämpft hatte – verstand mich nicht. Wie, fragte er mich, sollen wir uns an Unrecht erinnern, wenn wir seine Spuren tilgen? Warum etwas entfernen oder musealisieren, das gar nicht vergangen ist? Stehen lassen, aber kontextualisieren, und zwar aggressiv – das war seine Haltung.
Dazu kommt: Eine Debatte über Symbole und eine über das, was sie symbolisieren, ist nicht dasselbe. So sehr plakative Forderungen manchmal nötig sind, um Aufmerksamkeit auf systemische Probleme zu lenken, so sehr lenken sie manchmal davon ab. «Rhodes Must Fall» hat viele Ziele – historische Aufarbeitung, bessere Vertretung von People of Colour in der Universität, die Einführung von «Reparations-Stipendien» –, aber geredet wird stets über dasselbe: die Statue.
Womöglich ist das nötig. Aber es schafft wenig Möglichkeiten, sich zu einigen. Anders ist das bei einer Debatte darüber, wie die Bedeutung eines Monuments ohne dessen Entfernung verändert werden kann. Dort gibt es Raum für Kompromisse, Differenzierung – das gilt speziell auch für andere Fälle, bei denen Figuren geehrt werden, deren politisches Erbe sich einer simplen Einordnung entzieht. Oder die gar kein solches Erbe mehr haben.
Neue Statuen neben den alten, Veränderungen an ihrem Aussehen, Verhüllungen oder schlicht leere Sockel – das gibt es alles. In Moskau stehen gesammelte Lenin- und Stalin-Statuen aus der gesamten Stadt in einem Park. In Berlin sah ich über einem Sockel mit eingraviertem DDR-Slogan einmal eine durchsichtige Plexiglasscheibe mit Schilderungen dazu, was das Gravierte verschwieg. Der krasse Kontrast zwischen den beiden Texten bleibt mir bis heute in Erinnerung.
Bis es keinen Rassismus mehr gibt, so lange sollen uns seine Spuren auch daran erinnern, dass er noch immer existiert – und daran, was wir gegen sein Fortbestehen tun können: Ergibt diese Idee Sinn? Oder ist es genau andersherum: Solange wir seine Spuren nicht tilgen, wird auch er fortbestehen?
Vor etwas mehr als vier Jahren war ich mir ganz sicher. Heute nicht mehr so sehr. Können wir wirklich so tun, als ob mit der Entfernung der Statue ein Schritt zur Lösung systemischer Probleme getan ist? Dürfen wir andererseits – gerade an einem Lern- und Wohnort – Statuen stehen lassen, auch wenn ihre Anwesenheit (und vor allem das Beharren darauf) die People of Colour unter uns psychisch belastet, gar ausgegrenzt? Wenn der Rektor von Oxford uns erklärt, wer die Statue nicht akzeptieren könne, solle sich «überlegen, andernorts zu studieren»? Und wer ist dieses «wir», das kann und darf?
Vor etwas mehr als vier Jahren dachte ich, mit einer Kontextualisierung von Rhodes’ Statue, mit dem Versuch, ihre Bedeutung und Botschaft zu verändern, sei es nicht getan. Weil die Verletzung, für die sie steht, so auch bestehen bleibt.
Heute frage ich mich, ob sie das nicht ohnehin tut – mit oder ohne Statue. Ob die Statue manchmal fallen muss, um diese Verletzung und die Ungerechtigkeiten, für die sie steht, sichtbar zu machen. Ob sie manchmal aber auch stehen bleiben sollte, wenn die Verletzten es ertragen. Als Mahnmal – und als Aufforderung, weiterzukämpfen.
Lesenswertes zur Statuendebatte
Von Agassiz bis Escher: Umstrittene Ehrungen gibt es auch in der Schweiz. Eine Übersicht.
Die Entfernung von Statuen sei nur einen von vielen möglichen Lösungen, findet die Zürcher Historikerin Gesine Krüger.
Erst eine krasse Forderung wie «Rhodes Must Fall» habe Rassismus in Oxford zum Thema machen können, schrieb die ehemalige Rhodes-Stipendiatin Amia Srinivasan schon 2016.
Die Entfernung von Statuen kann befreiend sein. Werde sie nicht von einer politischen Diskussion begleitet, schaffe sie aber nur «die Illusion von Freiheit», heisst es hier am Beispiel Albanien.
Deutschland gilt zuweilen als Mustereispiel für seinen Umgang mit Nazi-Überresten. Zu Unrecht, findet Historikerin Yuliya Komska in einem lehrreichen Thread.
Der «Statuenkrieg» sei legitim, drohe aber von der wichtigeren «Black Lives Matter»-Debatte abzulenken, so der Britische Historiker David Olusoga.