Dreimal habe ich das Kolloquium «Antike und Christentum» im Rahmen meines Studiums absolviert. Und im neuen Semester besuche ich es ganz ohne Absicht auf ECTS-Punkte. Denn die Veranstaltung gehört zum Interessantesten, was das Geschichtsstudium zu bieten hat. Dennoch ist sie unter Geschichtsstudierenden kaum ein Begriff. Zu Unrecht, wie ich meine.
Durch einen von gewaltigen Bäumen verfinsterten Weg schreitet man hinauf zur historistischen Villa Tanneck, die das Seminar für Griechische und Lateinische Philologie beherbergt. Eine stimmungsvolle Location für das traditionell gewordene interdisziplinäre Kolloquium «Antike und Christentum».
Worum handelt es sich bei diesem Kolloquium? Erstmals wurde die Veranstaltung im Sommer-Semester 2002 durchgeführt, danach bis 2009 in losen Abständen fortgeführt, und 2017 neu lanciert. Im Herbstsemester 2020 findet die Veranstaltung zum elften Mal statt. In den Sitzungen werden Quellen aus der Theologie- und Philosophiegeschichte der Spätantike gelesen. Bewusst wählen die Dozierenden jeweils nur einen Text (beziehungsweise ein Textkonvolut) aus, damit die Auseinandersetzung mit den Quellen nicht auf der Oberfläche verharrt. Selten hat man in anderen Veranstaltungen die Gelegenheit, sich so intensiv mit geistesgeschichtlichen Quellen zu beschäftigen. Daher möchte ich eine Lanze brechen für diese Veranstaltung.Oder im Geist der spätantiken Quellen formuliert: meine Schrift «De Colloquio Apologiae Libri VII» vorlegen.
Ringvorlesungen und Veranstaltungen mit zwei Dozierenden gibt es viele. Wo aber hat man schon die Gelegenheit, gleich drei aktiven Professoren und einem (nicht minder aktiven) Emeritus gleichzeitig gegenüberzusitzen. (In den Anfangsjahren waren es sogar bis zu sieben Dozierende!) Der Gräzist Prof. Dr. Christoph Riedweg ist in den Seminarräumen der AltphilologInnen gewissermassen der Gastgeber des Kolloquiums. Prof. Dr. Stefan Krauter vertritt die TheologInnen und tritt damit die Nachfolge von Prof. Dr. Samuel Vollenweider an. Dieser, inzwischen emeritiert, bleibt dem Kolloquium aber als versierter Teilnehmer erhalten. Von unserer Seite schliesslich nimmt der Althistoriker Prof. Dr. Andreas Victor Walser Einsitz in das Gremium. Geballte interdisziplinäre Kompetenz also.
Was gibt es Angenehmeres im Studium, als in einem kleinen Kreis diskutieren zu können? Was ermutigt mehr, sich zu äussern, als die Aussicht, sich nur vor wenigen Leuten zu blamieren, und nicht vor einem prall gefüllten Vorlesungssaal? Die Zahl der Teilnehmenden schwankt zwar zwischen knapp 10 und über 20, aber in jedem Falle ist die Gruppe klein genug, um intensive Diskussionen führen zu können.
Die Anwesenheit von drei bis vier Professoren, die ein über ihr Fachgebiet hinausreichendes Interesse an der Kulturgeschichte der Spätantike aufweisen, bringt es mit sich, dass auf hohem Niveau diskutiert wird. Da mag es überraschen, dass das Kolloquium dennoch auch für Studis zu empfehlen ist, die mit der Geisteswelt der Spätantike und der Patristik nicht so vertraut sind. Denn es herrscht ein sehr offenes Diskussionsklima: Auch sehr allgemeine Fragen und Diskussionsbeiträge, die nicht auf umfassenden Vorkenntnissen beruhen, werden von den Dozierenden gerne aufgenommen. Und übrigens: Man kommt ohne besondere Latein- und Altgriechischkenntnisse durch, da alle Texte in Übersetzungen vorliegen.
Staubtrockene theologische Traktate ohne jede Relevanz? Mitnichten! Die Quellentexte sind immer ausgesprochen vielfältig, historisch wirkungsmächtig und ermöglichen unterschiedliche Herangehensweisen. Ich selbst habe zwei dieser Kolloquien zu Origenes absolviert, der zu den interessantesten und unkonventionellsten Denkern des frühen Christentums gehört, gerade weil er in seiner neuplatonischen Prägung der sich ausbildenden kirchlichen Dogmatik in mancherlei Hinsicht widersprochen hat (und später daher auch als Häretiker galt). Weiter habe ich das Kolloquium zu Tertullian besucht, der in seiner Schrift «Adversus Marcionem» gegen eine Häresie argumentiert, die noch bis ins Hochmittelalter Nachfahren fand. Im HS 2020 stehen Texte des «Hermes Trismegistos» aus dem 2. und 3. Jahrhundert im Vordergrund. «Sie sind für das intellektuelle Klima der Zeit ausserordentlich aufschlussreich», so der Ankündigungstext. Walser ergänzt: «Mit dem ‘Corpus Hermeticum’ widmen wir uns im kommenden Semester einer Reihe von Texten, die auch in der Neuzeit breit rezipiert wurden und eine hohe Faszination ausgeübt haben – und immer noch ausüben können.»
Allein schon durch die drei beteiligten Lehrstühle (Alte Geschichte, Theologie und Gräzistik) wird ein interdisziplinäres Herangehen ermöglicht. Die unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen es, den einen Aspekt durch den anderen zu beleuchten. Neben philologischen, kultur-, geistes- und politikgeschichtlichen und theologischen Aspekten, spielt die Philosophie ein Schlüsselrolle. Das spätantike Denken ist von Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen philosophischen Strömungen, vor allem dem Platonismus, geprägt. Viele dieser Diskurse haben die geistesgeschichtlichen Entwicklungen Europas auf Jahrhunderte hinaus vorgespurt, insbesondere durch die Konsolidierung kirchlicher Dogmen. Der Bezug zu Mittelalter und Neuzeit blitzt also immer wieder auf. Im Kurzessay, der zum Leistungsnachweis gehört, kann man daher die unterschiedlichsten Richtungen einschlagen: philosophische, dogmengeschichtliche, kulturgeschichtliche, theologische, religionsgeschichtliche, kirchengeschichtliche, philologische, etc.
Jede Woche derselbe Trott? In diesem Kolloquium ist es anders: Die Sitzungen finden nur an manchen Freitagen des Semesters statt. Dafür ist etwa jede zweite Sitzung eine Doppellektion, die es ermöglicht, sich stärker in die Texte zu vertiefen. Diskussionen werden nach meiner Erfahrung umso interessanter, wenn der Zeitpunkt ihres Vorübergehens nicht schon zu Beginn drohend nahe ist.
Sollte ich etwa irgendjemanden mit meiner Apologie des Kolloquiums noch nicht überzeugt haben? Ist die Vorstellung von einer Doppellektion harter geistiger Detailarbeit an spätantiken Quellentexten für einige noch immer abschreckend? Dann sei als ultimatives Argument darauf verwiesen, dass die Dozierenden auch auf das leibliche Wohl durchaus Wert legen. Für die Doppellektionen pflegt «Hausherr» Christoph Riedweg, ein Spezialist für platonischen Idealismus, jeweils sehr materielle Güter mitzubringen: Eine ganze Auswahl an Snacks für die Pause. Wo am HS gibt es schon ein solches Verpflegungsangebot? Die Pausen ermöglichen neben Verpflegung auch einen lockeren Austausch mit Studierenden und Dozierenden. Man sieht: Das Kolloquium lohnt sich.
Modul 321c016, 18.09. bis 18.12.2020, jeweils Freitag nachmittags
Dieses Semester findet die Veranstaltung wegen COVID-19 an der theologischen Fakultät statt
https://studentservices.uzh.ch/uzh/anonym/vvz/index.html#/details/2020/003/SM/51012643
Übersicht der bisherigen Kolloquien
2002 Laktanz, Einführung in die Lehre vom Göttlichen (Divinae Institutiones)
2003 Plutarch, Pythische Dialoge
2004 Frühes Christentum, Sophisten, Gurus und Lügenpriester im Osten des Imperium Romanum (Lukian, Peregrinus Proteus und Alexandros Pseudomantis)
2006 Synesios von Kyrene. Hymnen auf dem Weg nach Konstantinopel
2009 Christliche Epigraphik
2017 Kaiser Julian, Auswahl aus seinen philosophischen und antichristlichen Schriften
2017 Origenes, De principiis
2018 Der Kölner Mani-Kodex
2019 Origenes, Gegen Kelsos
2019 Tertullian, Adversus Marcionem
2020 Hermes Trismegistos