Tatendrang aus Leistungszwang, oder: Studieren in Zeiten von Corona VII

Die Läden und Restaurants haben wieder offen, die Strassen füllen sich und die Deadlines rücken naher. Was unverändert bleibt, ist der Online-Unterricht. Ein Bericht von Carmen Bortolin, Studentin der Geschichte und AVL im 2. Bachelorsemester.

Montag:

Was ein Montag. Nach Wochen, wo ein Tag sich kaum vom nächsten Unterschied und Zeit vorbeiflog (es ist schon Mitte Mai???) und doch gleichzeitig Stunden kaum vergehen wollten, endlich ein wenig Normalität zurück.

Gleich nach dem Aufstehen beginne ich zu backen, ausnahmsweise mal nicht nur wegen der Langweile, sondern weil einer meiner Lieblingsmenschen Geburtstag hat. Ein Morgen voller Cookies, Bananenbrot, Bruschetta & ein wenig Baileys nebenbei, dann geht’s am Nachmittag gleich ins Brocki, es haben sich schliesslich 2 Monate an Kleidern dort aufgestaut und das muss man schon ausnutzen.

Ich bin seit zwei Monaten nicht mehr Zug gefahren und ich hätte nicht gedacht, dass es sich so unnatürlich anfühlen könnte. Um Sitzplätze muss man sich sicher nicht ringen, Platz wird einem immer gelassen. Wer keinen Platz lässt, wird gleich zusammengeschissen oder zumindest empört angestarrt. Aber das ist nur im Zug. In der Altstadt sieht’s aus, als gäbe es Corona gar nicht. Die Strassen sind voll, die Läden wieder offen. Und doch, es fühlt sich alles irgendwie falsch, unnormal an. Normal ist jetzt das eigene Zimmer, das Alleinsein, der Bildschirm geworden. Es wird wohl etwas dauern, bis man sich wieder an andere Menschen gewöhnt. Im Moment ist es mir noch zu viel, also geht’s wieder nachhause.

Dienstag:

Der Dienstag gleicht schon eher dem üblichen Corona-Alltag. Zum Rausgehen habe ich gar keine Zeit. Eine Online-Vorlesung nach der anderen, von 10 bis 4, Kaffee holen kann ich noch in den Pausen, doch viel mehr geht nicht. Eigentlich wie an der Uni damals. Eigentlich aber auch nicht. Zum Teil läuft die Zoom Sitzung im Hintergrund wie ein Radio, während ich versuche langsam mit den vielen Essays zu beginnen, denn Prüfungen haben wir ja keine mehr. Oder ich schreibe dieses Tagebuch und hoffe, dass mein Gehirn die wichtigsten Infos der Seminare, die im Hintergrund laufen, automatisch aufnimmt.

Dieses Prinzip wende ich dann auch im Lateinseminar an. Wir bekommen immer eine Stunde zum selber Aufgaben lösen, dann folgt noch eine gemeinsame Zoom-Sitzung. Natürlich nutze ich die Stunde der eigenständigen Arbeit immer voll und ganz aus. Zwar nicht für Latein, aber das ist doch nebensächlich. Mit meiner Yogamatte begebe ich mich in den Keller (der Familie zuliebe) und beginne mein tägliches Chloe Ting-Workout. Zurzeit mache ich ihre Summer Shredding Challenge und während ich verschwitzt zum hundertsten Mal Burpees mache, hopst sie fröhlich lächelnd und ohne einen Schweisstropfen auf der Stirn auf dem Bildschirm herum. Schon merkwürdige Wesen, diese Youtube-Fitness-Gurus.

Um 3 betrete ich dann die Lateinsitzung und will schon das nächste Workoutvideo beginnen, als der Prof fragt ob alles klar wäre für die Probeprüfung am Donnerstag. Mir wird klar, dass mir nichts klar ist. Nun ist es wohl so weit; jetzt ist genug Druck da, um endlich ein ganzes Semester Lateinstoff nachzuholen. In zwei Tagen. ☺

Mittwoch:

Der Druck bringt’s. Um 7 steh ich auf. Meine Mutter mustert mich komisch, als ich schon so früh in der Küche stehe und mir einen Kaffee mache. Ob es mir gut gehe, fragt sie mich. Ich wisse es nicht, antworte ich. Gibt es Gefühle überhaupt noch? Seit der Quarantäne fühlt sich sowieso nichts mehr wirklich an.

Um 8 sitze ich am Pult, erstelle schnell eine Lern-Playlist und los geht’s. Bis um 10, wo mein Proseminar beginnt, lerne ich durch. Was ich seit Wochen nicht fertigbringe (zumindest mal ein einziges Set Vocis lernen) gelingt mir nun ohne Mühe, die Konzentration schwindet auch nicht. Sogar im Seminar pass ich mal voll auf, mute den Chat, in dem ich mit den KommilitonInnen sonst während des Seminars immer schreibe. Stattdessen schreib ich mit, was der Dozent sagt. Gut, ich hol mir irgendwann um 11 Mal Essen, passe also nicht die ganze Zeit auf. Aber trotzdem, viel besser als die vergangenen Wochen. Um 12 ist das Seminar vorbei, ich bleibe sitzen, lerne weiter Voci. Ich höre nicht auf, bis ich alle Sets einmal durchgemacht habe. Als ich fertig bin, schliesse ich den Laptop und geh meine Workouts machen. Vielleicht krieg ich die Prüfung Morgen einigermassen hin, wer weiss.

Donnerstag:

Heute geht’s gleich weiter wie gestern. Um 7 steh ich auf, um 8 bin ich wieder am Latein Lernen. Um 10 kommt eine gute Freundin vorbei. Wenn wir unsere zwei (2) Hirnzellen zusammentun, sollten wir schon einigermassen in der Lage sein, die Grammatik zu verstehen. Wir lassen ihre Latein-Playlist laufen (venite arcesserem hic panem!) und arbeiten uns durch die Lernziele.

Um 2 ist es dann so weit, man kann die Probeprüfung online herunterladen, sie ausdrucken, lösen und wieder hochladen. Ich setze mich vor den Caesar-Text. Okay, ich bin doch nicht gut vorbereitet. Zwar gebe ich mein Bestes, doch meine Übersetzung sieht am Schluss so armselig aus, dass ich beschliesse die Prüfung nicht abzugeben. Sonst merkt der Lateinlehrer noch, dass ich seit Wochen kaum am Onlineunterricht teilgenommen habe. Ich nehme mir aber vor, die Hausaufgaben von jetzt an zu erledigen und am Unterricht teilzunehmen. Sonst schaff ich die Abschlussprüfung nie.

Freitag:

Seit den Osterferien habe ich begonnen, mir einen Tagesplan aufzustellen. Ich schreib immer auf, was ich jeden Tag erledigen möchte, lass mir aber Freiheit, es dann zu erledigen, wann ich möchte. In den Ferien hat das wunderbar geklappt, doch nach zwei Wochen habe ich’s zu vernachlässigen begonnen. Nun soll’s aber wieder losgehen.

Heute sieht der Plan zwar voll aus, aber erstaunlicherweise arbeite ich mich ziemlich gut durch. Der Arbeitsdrang, der aus dem Druck entstanden ist, hält an, hoffentlich noch für eine Weile, denn ich brauche es. Zuerst lese ich ein paar Seiten in Proctors „Golden Holocaust“, dann führ ich das Forschungsjournal für die Schreibübung weiter, lerne weiterhin Lateinvoci, damit ich’s bis zur Abschlussprüfung im Griff habe. Onlineseminare habe ich freitags keine. Heute macht es eigentlich keinen Unterschied, ob wir uns in Corona-Zeiten befinden oder nicht.

Samstag:

Heute wird ein guter Tag. Um den Geburtstag einer guten Freundin zu feiern, gehe ich mit ein paar FreundInnen zu ihr brunchen. Wir haben alle etwas zu Essen gemacht, Spiele sind auch dabei. Als ganze Gruppe haben wir uns seit dem Lockdown nicht mehr getroffen. Es hängt auch immer ein wenig Melancholie in der Luft, denn noch vor einem Jahr haben wir jeden einzelnen Tag miteinander verbracht. In Neuseeland. Merkwürdig, wie anders alles auf einmal wurde. Aber heute soll uns das nicht stören. Wir essen, spielen Cards Against Humanity und geniessen einfach den Tag. Etwas für die Uni wird heute nicht mehr gemacht. Für das gibt es ja noch morgen.

Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang