Der Sturm der Corona-Pandemie ist mittlerweile über uns hinweggezogen. Gerade bei jungen Menschen, zwischen Jugend und Erwachsensein, hat er aber seine Spuren hinterlassen, die immer noch spürbar sind. Eine persönliche Einordnung des Erwachsenenwerdens während der Pandemie.
2019, das war für mich noch das Jahr des Maturstreichs, das Jahr des ersten Interrails, das Zwischenjahr, in dem ich erste Arbeitserfahrungen als Pflegepraktikant im Spital sammelte und im Operations-Saal von den Chirurgen ausgelacht wurde, als ich ihnen erzählte, ich überlege mir Philosophie zu studieren. Es war auch das Jahr, in dem ich viel zu viel Zeit hatte, um über mich selbst, das Leben und was man damit anfangen möchte, nachzudenken, sodass ich mich dann irgendwann völlig konfus auf einen der zigtausenden Studiengänge stürzte. Und dann wurde es eben auch noch zum Jahr von Corona. Das alles liegt bereits in weiter Ferne. Mittlerweile studiere ich im dritten Jahr Geschichte, bin von zuhause ausgezogen, arbeite Teilzeit, versuche also wie so viele aus meinem Freundeskreis den Sprung ins Erwachsenenleben zu wagen. Die Zeit, wie sie fliegt, die Tage, wie sie vergehen und bald schon ist man nicht mehr derselbe, der man früher war. Das geht alles so schnell. Manchmal zu schnell. Wir sind noch immer jung: «Young, dumb and bro-o-o-ke». So in etwa singt es Khalid, ein Sänger aus den USA. Der Weg in die Welt der Erwachsenen ist nicht einfach.
Diese Unsicherheit der Zwanziger spricht Erich Maria Remarques auch in seinem Roman «Im Westen nichts Neues» an: Der Protagonist schildert darin das Gefühl der Front im ersten Weltkrieg und wie er sich durch den Krieg abgeschnitten von der Vergangenheit fühlt. «Seit wir hier sind, ist unser früheres Leben abgeschnitten, ohne dass wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen Überblick und eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar[…] ,denn in unserem Alter ist die Kraft der Eltern am schwächsten, und die Mädchen sind noch nicht beherrschend. Ausser diesem gab es ja bei uns nicht viel anderes mehr: Etwas Schwärmertum, einige Liebhabereien und die Schule, weiter reichte unser Leben noch nicht.»
Natürlich ist die damalige Situation nur schwer mit einer Pandemie zu vergleichen, doch einige gemeinsame Aspekte, wie zum Beispiel dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Versuch, sich in einer immer schneller drehenden Welt zurechtzufinden, kann man dennoch hervorheben: Auch die Corona Pandemie hat bei allen von uns Spuren hinterlassen. Auch wir fühlen uns durch die Pandemie abgeschnitten von der Vergangenheit. Für uns gibt es ein vor und ein nach der Pandemie: Vor der Pandemie, da waren wir noch frisch entlassene, naive MaturandInnen: Zwölf Jahre lang hatten wir die Schulbank gedrückt. Zwölf Jahre waren wir morgen für morgen aufgestanden, um uns in diese Institution zu begeben, die sich wie ein zweites Zuhause anfühlte. Unser Leben bestand aus nichts anderem als Schule: Um Viertel vor sieben aufstehen, frühstücken, ab aufs Velo, um Viertel vor acht klingelte die Glocke, um vier waren wir wieder zuhause, dann Hausaufgaben, Fussballtraining, noch ein bisschen Gamen, gute Nacht. So selbstverständlich, so natürlich erschien uns dieser ewige Zyklus, dass wir uns ein Leben ausserhalb der Schule nicht vorstellen konnten. Wie Fische schwammen wir in einem mehr oder weniger geraden Fluss, ohne zu ahnen, dass er im Ozean des Erwachsenenlebens mündet. Wenn man diese Analogie weiterdenkt, so fühlte sich die Pandemie ein bisschen wie das Delta an, die Schleuse, durch die wir hindurchgespült wurden. Klar, ein Grossteil dieses Prozesses des Erwachsenwerdens hätte sich auch ohne die Pandemie abgespielt. Ich glaube aber, dass letztere diesen stark beeinflusst, vielleicht auch beschleunigt hat.
Es scheint mir wichtig zu betonen, dass wir zur ersten Generation gehören, die mit einem iPhone in der Hosentasche gross geworden ist. Was das genau heisst, wissen nur wir selbst. Vielleicht fühlen wir uns auch deshalb oft missverstanden von den Eltern, der Uni, einfach all denen. Weil die nicht wissen, wie das so ist, erwachsen zu werden in einer Zeit, in der man gleichzeitig immer «on» sein muss. Während der Krise mussten wir am eigenen Leibe erfahren, dass das längere Alleinsein mit sich selbst und dem Handy in einer Zeit, in der man doch am liebsten allen um den Hals fallen möchte, ungesund werden kann. «Du bist, was du liest»: So besagt es eine Werbung der NZZ. Das gilt auch für den Konsum von sozialen Medien, Onlinenachrichtenportalen, Youtube usw. Unser Selbstbild, wie auch das Bild anderer Menschen hängt davon ab, was wir schauen, worüber wir uns definieren und womit wir uns identifizieren. Dass es teilweise zu verzerrten Ansprüchen an sich selbst wie auch an andere führen kann, wenn man jeden Tag auf Insta von Bildern mit perfekten Bodies, Beauties und Booties überflutet wird, kommt für mich nicht überraschend. Klar ist, dass die Allgegenwärtigkeit dieses kleinen Geräts unser alltägliches Erleben massgebend mitprägt. Daten zeigen, dass ein Grossteil der Jugendlichen jeden Tag mehrere Stunden auf ihrem Handy verbringen. Soziale Interaktionen, unsere finanziellen Abhandlungen, ja sogar ein Teil unserer Identität wurde auf dieses Ding verlagert. Dieses Ding, das, wenn man es einmal neutral und ausgeschaltet betrachtet, nichts anderes als ein etwa 15 cm langes und 8 cm breites Metallteil ist.
Da unsere Eltern noch in einer Zeit ohne Smartphone gross geworden sind, wurde der Austausch mit anderen Jugendlichen zu einer umso wichtigeren Ressource, um mit unseren Gefühlen klarzukommen. Egal, ob eine Beziehung gerade in die Brüche gegangen ist, ein schlechtes Tinderdate einen beschäftigt, oder man Unsicherheiten in Bezug auf sein Äusseres hat: «Mir rede drüber». Fällt dieser Austausch weg, bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Unsicherheiten alleine auszubaden, was oft mehr Schaden anrichtet, als es zu Lösungen führt. Gib mir eine Stunde Zeit, um über eine meiner Unsicherheit nachzudenken und schon bin ich in eine dieser Abwärtsspiralen geraten, bei denen das Selbstwertgefühl am Ende ausgelöscht ist. Dies ist mitunter ein Grund dafür, dass sich die Pandemie so katastrophal auf das psychische Wohlbefinden der Jugendlichen auswirkte. Wir waren viel zu lange mit unseren Unsicherheiten allein. Oliver Bilke-Hentsch, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste vergleicht die Auswirkungen der Pandemie mit einer langanhaltenden Hitzewelle: Ist das Ende der Hitze absehbar, ist sie für eine gewisse Zeit auszuhalten. Scheint aber keine Entlastung in Sicht, kommt das Fass irgendwann zum Überlaufen und es wird den Leuten zu viel. Umso schöner war es, als man sich nach diesem scheinbar endlosen Zyklus von erneuten Lockdowns endlich wieder in die Arme schliessen konnte. Dieses konstante soziale Feedback, die Gespräche zwischen den Lektionen, das herzhafte «Ola, mi amor» der Kassiererin, fehlten. Das alles ist so wichtig!
Gleichzeitig hat uns die Krise auch etwas pragmatischer gemacht, etwas abgebrühter, realistischer, weniger verträumt. Wir haben gesehen, dass es in der Schweiz nebst dem Gemeinwohl oft einfach um «de Stutz» geht. Dadurch, dass einige von uns auch erste Arbeitserfahrungen gesammelt haben, haben wir eine Vorahnung davon erhalten, wie das Leben mit 30 einmal tatsächlich aussehen könnte. Einige wünschen sich einmal ein Eigenheim mit Familie und Kindern zu besitzen, andere nicht. Doch solche Wünsche gehen schliesslich nicht von allein in Erfüllung. Das muesch der denn erscht mal leischte chönne!
Und überhaupt: Arbeiten, was heisst das schon? Früher war das das, was die Leute tun, die man meistens gar nicht wahrnimmt, weil man immer aufs Handy schaut, oder von Freunden umgeben ist, Leute im Coop, oder die auf dem Bau. Der Gedanke, dass das auch ein Alltag sein kann, dass das ja auch Menschen wie du und ich sind, ist wohl den meisten erst in den Sinn gekommen, als sie das erste Mal selbst im Coop zu arbeiten begonnen haben wie ich, um dann nach knapp drei Monaten wieder entlassen zu werden, weil man ein paar Mal zu spät erschienen war und nicht effizient gearbeitet hat. «Muscht du schneller schaffe, Junge, nöd studiere, eifach schaffe». Nicht nachdenken, sondern einfach mal auf gut deutsch «chrampfe». Nach zwölf Jahren nur Denken habe ich mich beim Getränkeregale auffüllen so unfähig gefühlt wie noch nie zuvor. Dass viele aus meinem Freundeskreis erste Arbeitserfahrungen während der Pandemie gesammelt haben, erklärt für mich auch, warum viele sagen, diese habe sie erwachsener gemacht. Schliesslich sind es die Zeiten, die dich verändern. Neue Lebensumstände in einer Zeit, in der man des Öfteren allein ist, führen zu neuen Schlüssen und Einstellungen gegenüber dem Leben.
Was heisst das überhaupt, erwachsen zu sein? Heisst es etwa Verantwortung zu übernehmen, selbstständig zu werden? Muss man Geld verdienen, pragmatisch denken, um als erwachsen durchzugehen? Ist es erwachsen, wenn man ernster, seriöser wird und anfängt, über belanglose Dinge wie das Wetter zu sprechen? Is this the real thing? Vielleicht heisst es auch gar nichts. Alles gelogen. Stell dir vor, es heisst Erwachsenentheater und alle spielen mit. Vielleicht meint Erwachsensein ja auch, frei zu sein, und trotzdem eine gewisse Orientierung zu bewahren. Free, aber nicht «free falling».
Es ist ja auch so, dass einem auf dem Weg ins erwachsene Dasein so viel mitgegeben wird, das man erst mit Zeit und durch Erfahrung einordnen kann. Politik, Arbeit, Familie, Liebe, Heirat usw.: Mit solchen Begriffen wird das heranreifende Gehirn junger Erwachsener traktiert und hinterlässt dort seine Wirkung. Erwachsene reden über so viele Dinge mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass gutgläubige Kinder oft Mühe damit haben, wenn sich herausstellt, dass viele dieser Dinge ganz anders sind, als man sie sich einmal vorgestellt hat. Dann wacht man irgendwann an einem Herbstmorgen auf und fällt aus allen Wolken. Was heisst denn das alles, verdammt? Kann mir das jemand sagen? «Ach, Junge, du wirst schon sehen…» heisst es dann, oder «Das stellt sich dann irgendwann ein, weisst du », oder «Du darfst doch nicht alles so ernst nehmen, vor allem dich nicht.»
Aber ein bisschen Ernst gehört doch dazu. Spätestens dann, wenn man sich als Teil eines grösseren Ganzen zu konzeptualisieren beginnt, entwickelt sich auch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein. Nicht, dass Kinder dieses Verantwortungsbewusstsein nicht besitzen: Zwar lernt schon jedes Kind auf dem Pausenhof, was gut ankommt und was man besser lassen sollte. Nur ist dieser Pausenplatz plötzlich ziemlich gross geworden und heisst nun Welt: Aus Kindern werden grosse Kinder: Während der Jonathan früher noch auf dem Pausenplatz seine MitschülerInnen terrorisiert hatte, so wütet er nun in der Politik: Andere werden ChefärztInnen, BankerInnen, JournalistInnen und sprechen bei Aperos in grossen Tönen von Asset Management oder was weiss ich. Aus kleinen Spielzeugen werden grosse, aus Legoroboter werden Panzer und schon wirds ernst.
Manchmal fragt man sich dann auch, wie das meine Eltern auf die Reihe gekriegt haben. Schaffe ich das? Vielleicht hat man dann eine Krise. Doch ich glaube, so geht es vielen: Da muss man durch. Und so sind wir also auch füreinander da, wir, die Jungmannschaft, wir die fluorescent adolescents (tolles Lied von den Arctic Monkeys) manchmal auch trotzig, wütend, frustriert, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns vorgestellt haben. Und so gehen wir auf die Strasse, stehen ein für Klimaschutz, für Gleichberechtigung der Geschlechter, gegen Sparmassnahmen im Bereich der Bildung. Wir schreiben mit bei Geschichtszeitungen, treten Parteien bei, melden uns freiwillig, um bei den Stadtratswahlen mittelefonieren zu können. «Absitzen und durchs Studium kiffen». Von wegen.
Möglicherweise nehme ich das mit dem Erwachsenwerden ja doch etwas zu ernst, wenn man als geisteswissenschaftliche Dozentin an einer Uni solch realitätsferne Aussagen in einem Interview mit einer der angesehensten Zeitungen der Schweiz heraushauen darf. Aber vielleicht gehört auch das zum Erwachsenwerden dazu: zu verstehen, dass die Alten es auch nicht besser können. Und so müssen wir das Zepter selbst in die Hand nehmen. Wir tragen Sterne, wir tragen Herzen, wir wollen lachen, dann wieder scherzen, so soll es sein, so muss das sein… Aber damit es so sein kann, muss man uns doch auch zusammen sein lassen! Denn, wenn wir uns nicht haben, dann geht es uns schlecht.
Vielleicht hilft es uns gerade in diesen turbulenten Zeiten, das Geschehen einmal durch die kritische Linse der Geschichtswissenschaft aus der Distanz zu beobachten. Nicht, weil die die Welt dadurch schöner wird. Doch der historische Blickwinkel kann uns dabei helfen, das momentane Geschehen einzuordnen, es kritisch zu hinterfragen. Wie viel hat die Menschheit schon überstanden. Auch diese Krise wird bald wieder in Vergessenheit geraten: Sie und wir sind nur ein Glied in einer langen Kette. Und so können wir uns auch getrost wieder auf das Hier und Jetzt, auf dieses so schön unordentliche Leben mit seinen Irrungen und Wirrungen einlassen. Meine rebellische Ader hat jetzt ihren Platz im Geschichtsstudium gefunden. Sie wird sich dort weiter, wie der Diskursanalytiker Paul Veyne es ausdrückt, über das wundern, was sich von selbst versteht.