«The most difficult research I have ever done»

Wie geht man damit um, wenn man von Bekannten ausspioniert wurde? Von Freunden? Von Menschen, die man zu seinen engsten Vertrauten gezählt hatte? Die US-Anthropologin Kathrine Verdery untersucht in ihrem Buch genau das. Und entdeckt dabei eine Identität, von der sie selbst nichts wusste.

Autobiografien können das Gefühl erzeugen, einer Person gegenüber zu sitzen und sie ihre Geschichte erzählen zu lassen. Währenddessen ist Autobiografisches in akademischen Publikationen eher rar. Wir lesen Forschungsliteratur, doch die schreibenden Personen und deren Emotionen bleiben uns zumeist verborgen. Vielleicht ist es gerade deswegen so erfrischend, das 2018 erschienene Buch My life as a Spy von Katherine Verdery zu lesen. Die Professorin für Anthropologie kann auf einen langen Werdegang zurückblicken, auf die Veröffentlichung zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Jahre der Lehre an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten. Anlass zur Autobiografie ist aber dennoch nicht ihre akademische Karriere, sondern die 2’781 Seiten umfassende Akte, die der rumänische Geheimdienst über sie verfasst hat, als sie sich in den 70er und 80er-Jahren in Rumänien aufhielt.

Als Verdery um die Jahrhundertwende von der Existenz dieser Akte erfährt, ist sie geschockt. Niemals hätte sie damit gerechnet, in diesem Ausmass überwacht geworden zu sein. Niemals hätte sie gedacht, dass zahlreiche ihrer Bekannten, mit denen sie teilweise jahrelange Freundschaften pflegte, sie bespitzelt hatten. Jahre verstreichen, bis sie beginnen kann, sich mit der Akte auseinanderzusetzten, in der ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit aufgezeichnet ist. In My Life as a Spy verarbeitet Verdery den emotionsbeladenen Prozess, die eigene Geheimdienstakte zu lesen und das damalige System, dessen Kontrollmechanismen sowie vor allem auch sich selbst besser verstehen zu wollen.

Mit rotem Roller und gelben Mantel zur Staatsfeindin

Das Buch nimmt uns mit in das sozialistische Rumänien 1973. Das Regime Ceauşescus ist zu dieser Zeit offen gegenüber westlichen Intellektuellen. Die 25-jährige Verdery passiert den Eisernen Vorhang, um während neun Monaten eine ethnographische Feldstudie durchzuführen – mit spärlichen Sprachkenntnissen und nur marginalem Vorwissen über das Land selbst. Sie ist dennoch guten Mutes: Die Warnungen der US-Botschaft vor Überwachung tut sie als gängige Kalter-Krieg-Paranoia ab, sie glaubt an Offenheit und Ehrlichkeit, und auf diesen Grundsätzen baut sie auch die Beziehungen in ihrem neuen Umfeld auf.  Noch bevor sie mit ihrer Arbeit beginnt, saust sie auf ihrem roten, neu gekauften Motorroller und in einen gelben Regelmantel gekleidet für eine Erkundungstour durchs rumänische Gebirge – und landet dabei ausversehen in einer Militärzone. Die Polizei erwischt sie, und ab diesem Moment steht Verdery, «The Folklorist», unter dem Verdacht, eine US-Spionin zu sein. Die Regierung untersagt ihr, die Untersuchung an dem von ihr ursprünglich geplanten Ort durchzuführen, Verdery wird in einer anderen Region platziert und von da an über unterschiedliche Kanäle überwacht. Die junge Doktorandin schöpft keinen Verdacht. Nicht nur der rumänische Geheimdienst, die Securitate, sondern auch sie selbst legt sich eine neue Identität zu. «Katie» ist wagemutiger, abenteuerlustiger als Katherine es zu Hause war. Sie integriert sich ins Dorfleben, schliesst die Menschen rasch ins Herz, entwickelt tiefe Freundschaften, hat hie und da intime Beziehungen. Nichts davon entgeht der Securitate. Die Leute aus dem Dorf erstatten dem Geheimdienst regelmässig Bericht, Verderys Zimmer wird ab und an durchsucht, Telefone werden abgehört, Briefe abgefangen, Hotelaufenthalte aufgezeichnet. Die damalige Unwissenheit von «poor Kathy» sorgt bei der 40 Jahre älteren Professorin Verdery für Kopfschütteln.

Nach der Auswertung der Daten verwirft der zuständige Securitate-Beamte die Hypothese, Verdery sei eine Spionin. Doch als Verdery 1979 nach Rumänien zurückkehrt, wird ihre Überwachung intensiviert. Diesmal verlässt sie ihr Fachgebiet und stürzt sich in die Geschichtswissenschaft, um den Übergang vom Feudalismus zum Sozialismus zu untersuchen. Wie sehr Geschichte in dem Kontext politisch aufgeladen aber war, wird Verdery erst Jahre später bewusst. Interne Spannungen mit der ungarischen Minderheit in Rumänien hatten zu diesem Zeitpunkt zugenommen. Die Securitate vermutet, Verdery sei Ungarin, die durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten gegen den rumänischen Staat aufhetzen wolle. Doch Verdery entwickelt eine tiefe Freundschaft mit einem renommierten Professor, der sie bei der Recherche unterstützt, und nach der Auswertung ihrer aufgezeichneten Dialoge kommt die Securitate erneut zum Schluss, dass die Zielperson «Vera» keine Gefahr für das Land darstelle.

Ganz anders verläuft dies 1984, als Verdery erneut nach Bukarest reist, diesmal um die Rezeption der rumänischen Nationalgeschichte zu erforschen. Unterdessen hat sie ein Buch über Transsilvanien publiziert – und einen Fehler mit weitreichenden Konsequenzen begangen. Eine Illustration ziert ihr Buchcover, die je einen Stereotypen eines Ungarn und eines Rumänen zeigt: Der schlaue Ungare und der diebische Rumäne, ein gängiges Motiv im rumänischen Humor. Mit dem Bild wollte Verdery zeigen, dass sich solche Klischees über Jahrhunderte gehalten hätten. Sie empört damit jedoch sowohl rumänischen Intellektuelle wie auch enge Freunde, die sich gekränkt fühlen, dass eine Amerikanerin diese Klischees reproduziert. Von der Securitate wird Verdery nun offiziell als Staatsfeindin erklärt und als CIA-Agentin kategorisiert; ihr Fall landet auf den Schreibtischen der höchsten Securitate-Instanzen, aber ein Landesverweis bleibt aus. Selbst in den Jahren 87/88, als das Regime kurz vor dem Zusammenbruch steht und Verdery verdächtigt wird, sich mit rumänischen Dissidenten zu verbünden, um einen Aufstand zu planen, werden keine Sanktionen gegen sie ergriffen.

Vertrauen ist nicht gleich Vertrauen

Die chronologische Aufarbeitung ihrer Akte konfrontiert Verdery mit existenziellen Fragen. Hatte die Securitate sie nicht zu Recht als Spionin verdächtigt? Schliesslich war es ihr Ziel gewesen, Daten über Personen zu sammeln – eine Tätigkeit, der sich schwer Parallelen mit derjenigen der Securitate absprechen lassen. Wie konnte sie die politische Tragweite der Tatsache übersehen, dass sie als Amerikanerin im Osten sozio-demographische Analysen durchführte? Wurde sie gar von der Securitate instrumentalisiert, und wurde sie daher nie des Landes verwiesen? Das Lesen der eigenen Akte fordert Verdery heraus, sich selbst und ihr Schaffen als Ethnologin, wie auch ihre persönlichen Beziehungen zu hinterfragen. Dass einige ihrer engsten Freunde dem Geheimdienst regelmässig Bericht erstattet hatten, empfindet sie zuerst als Vertrauensbruch, doch dann beginnt sie, «Vertrauen» differenzierter zu definieren.

Verdery etabliert durch ihre ehrlichen, reflektierten Schilderungen eine Verbindung zu den Lesenden, welche man besonders im letzten Kapitel des Buches – sprechend als Rumination betitelt – spürt. Ihre persönliche Betroffenheit weicht dem Versuch, das Wirken der Securitate zu verstehen. Sie beginnt, ihre Freunde direkt oder indirekt mit der Frage zu konfrontieren, warum sie mit der Securitate kollaboriert hatten, und erkennt dadurch die tiefgreifenden Angstmechanismen, welche den Geheimdienst so mächtig machten, dessen Ruf immer noch nachhallt. Verdery nimmt auch mit den Beamten der Securitate Kontakt auf, die ihren Fall betreuten, wobei sie ungewohnt aufrichtig beschreibt, welche ambivalenten Gefühle diese Begegnungen in ihr auslösen. Sie versucht, all die Puzzleteile zusammenzufügen, um die vermeintliche Unsichtbarkeit der Securitate aufzuheben und deren starke Verflechtung mit den sozialen Strukturen der rumänischen Gesellschaft aufzuzeigen.

My Life as a Spy ist keine Forschungsliteratur im klassischen Sinne, viel eher ein aufrichtiger Einblick in die Gedankenwelt einer Geisteswissenschaftlerin, welche emotional wie strukturell in die Prozesse ihres Forschungsgebietes eingeflochten und selbst ein Teil davon wurde.

Literatur
Verdery, Katherine: My Life as a Spy – Investigations in a Secret Police File, Durham 2018. Online erhältlich ab 44 CHF.