Er strebt einen inklusiven Unterricht in der Alten Geschichte an, spricht sich aber für ein Latein-Obligatorium aus. Zugunsten seiner neuen Arbeitskolleg:innen lehnte er eine Professur an der HU Berlin ab. Der etü hat Felix K. Maier, den neusten Zugang bei den Profs am HS, zum morgendlichen Gespräch getroffen – leider ohne Kaffee, denn eine Maschine fehlt noch im neuen Büro. Hier erzählt er unter anderem, welche Netflix-Serien er sich besonders gerne anschaut und welche Rolle der etü bei seiner Entscheidung für die Professur in Zürich gespielt hat.
etü: Herr Maier, Ihre aktuelle Vorlesung sollen Sie den Studierenden als «wichtige Veranstaltung in Ihrem Studium» angekündigt haben. Dort haben Sie auch den griechischen Geschichtsschreiber Thukydides erwähnt. Wir fragen uns: Thukydides – who dis? Muss man diesen Mann kennen? Ist diese Ankündigung nicht etwas gar mit der grossen Kelle angerührt?
Maier: Da muss ich wohl besser aufpassen, was ich sage. (lacht) An diese Aussage kann ich mich jedenfalls so nicht mehr erinnern. Ich habe am Anfang der Lesung allerdings darüber gesprochen, was eine Vorlesung überhaupt für ein Veranstaltungstyp sein soll. Denn häufig lässt man sich einfach berieseln und nimmt eine passive Haltung ein. Ich wollte die Studierenden aber dazu animieren, sich jeweils gut auf die Vorlesung vorzubereiten und die zur Verfügung gestellte Literatur auch zu lesen. «Das muss eine wichtige Veranstaltung sein in diesem Semester», habe ich – zugegeben etwas zugespitzt – den Studierenden gesagt. Da hat aber bereits keiner mehr zugehört.
Offenbar ja schon.
Ja, offensichtlich. (lacht) Ihre Frage zu Thukydides beantworte ich sehr gerne. Er ist nichts weniger als einer der wichtigsten Geschichtsschreiber. Er nahm schon vor vielen Jahren so viel vorneweg, was heute für uns Historiker:innen Standard-Repertoire ist. Er hat sich beispielsweise mit Homer auseinandergesetzt und etwa die Anzahl Schiffe und Teilnehmer des trojanischen Kriegs kritisch hinterfragt. Er war einer der ersten, die gesagt haben: «Ich glaube nicht alles, was man mir über die Vergangenheit sagt – auch wenn es vielleicht schön klingen mag». Und er stellt fest: Man kann Tendenzen in der Geschichte feststellen, ohne dabei Prophet zu sein. Er hat insofern ein sehr aktuelles Verständnis von Geschichte.
Wir kannten Thukydides nicht – und sind wohl nicht die einzigen, denen das so geht. Viele Studierende setzten sich lieber mit neuzeitlichen Themen auseinander – in der Antike sei alles schon erforscht und es würden wenig neue Erkenntnisse zu Tage befördert, lautet der Tenor.
Es stimmt nicht, dass alles schon erforscht wäre. Es werden immer wieder neue Papyri oder Münzhorte gefunden. Aber natürlich müssen wir in der Antike mit weniger Quellen auskommen. Das Faszinierende ist: Der Blick auf die Quellen ändert sich immer wieder. Das ist ein Vorteil. Aktuelle Ereignisse wie etwa Migration lassen uns solche Themen auch in den antiken Quellen neu untersuchen. Alte, festgesessene Annahmen werden plötzlich hinterfragt: Haben tatsächlich auswärtige Ethnien das Römische Reich zerstört? Oder hat nicht doch viel mehr der Zusammenbruch des römischen Reiches überhaupt erst zur sogenannten Völkerwanderung geführt?
Es gibt also viel Neues in den Quellen zu entdecken.
Absolut! Es geht auch darum, in den Quellen neue, bisher weniger beachtete Bevölkerungsschichten zu untersuchen – der Arbeitsalltag eines Händlers, eines Kaufmanns, einer Frau, die sich um den Haushalt kümmern muss, sind wichtige Aspekte der Forschung. Ich appelliere deshalb an alle Studierenden: Es macht Spass, Antike immer wieder neu zu entdecken.
«Antike Geschichte darf nie ein Eliteverständnis haben»
Reicht denn ein Appell an die Freuden der antiken Geschichte? Wie können Studierende mehr für diesen Zeitbereich begeistert werden?
Ich sehe das als «positive Herausforderung» – und das meine ich ernst! Ich verstehe alle Studierenden, die von griechischen und lateinischen Quellen abgeschreckt sind. Aber man kann die Leute immer positiv überraschen – indem man gute Lehrveranstaltungen macht. Man kann gut mit deutschen Quellenübersetzungen arbeiten und nur einzelne Wörter im Lateinischen anschauen – das reicht für einen Aha-Effekt bei den Studierenden. Wichtig dafür ist eine gute, inklusive Lehre.
Was bedeutet das konkret?
Konkret planen wir zurzeit Lehrveranstaltungsprojekte mit Museen. Die Idee hier ist, dass Studierende ihre eigene Mini-Ausstellungen machen können. Die Vermischung von Lehre und Praxis ist sicher sehr wichtig. Eine einladende, inklusive Lehre bedeutet aber vor allem auch, dass niemand ausgeschlossen werden darf. Antike Geschichte darf nie ein Eliteverständnis haben und nur für ein bestimmtes Klientel attraktiv sein. So schaffen wir es vielleicht auch irgendwann, dass dann auf der Website des etüs das Verhältnis von Neuzeit- und Antike-Artikeln nicht mehr 29:1, sondern 20:10 ist.
Apropos «inklusive Lehre» – Was ist Ihre Haltung zum Latein-Obligatorium?
Es ist natürlich lästig, wenn man nicht das Glück hatte, Latein in der Schule gehabt zu haben. Aber auch bei anderen Studiengängen – wie etwa der Philosophie oder der Mathematik – gibt es nachzuholende Äquivalente, die dort auch selbstverständlich gemacht werden und nicht hinterfragt werden. Beim Latein verwundert mich die Diskussion schon ein bisschen, weil die Sprache für einen sehr grossen Teil der allgemeinen Geschichte extrem wichtig ist und enorme Vorteile mit sich bringt.
Der Wille zu einer inklusiven Lehre und das Festhalten am Latein-Obligatorium können auch ein Widerspruch sein.
Man sollte Latein als wichtige Sprache beibehalten – man sollte aber nie das Gefühl vermitteln, dass, wer nicht gut in Latein ist, besondere Nachteile hat. Man muss ja nicht jeden zum Latein-Profi machen, aber ein gewisses Grundverständnis der Sprache – ohne die Ansprüche zu hoch zu setzen – würde den Studierenden in der gesamten Vormoderne sehr weiterhelfen. Auf der anderen Seite, das möchte ich auch betonen, profitieren wir – gerade in der Alten Geschichte – von einem völlig frischen Zugang von Leuten, die noch gar kein Latein können. Sie arbeiten mit Übersetzungen und haben oftmals einen befreiteren, frischen Blick auf die Quellen. Und dennoch ist die Beherrschung von Fremdsprachen für Historiker:innen immer hilfreich. Und es gibt ja mittlerweile gute Möglichkeiten, andere Fremdsprachen zu lernen. Früher musste man das Grammatik-Buch wälzen; heute kann man sich auf Netflix Serien in allen Sprachen anschauen.
Welche Serien schauen Sie sich gerne auf Netflix an?
Am liebsten «Game of Thrones», «The Office» oder «Stromberg». Ich schaue aber auch gerne historische Serien. Das mache ich aber nicht mit dem «historischen Blick», für den wir Historiker:innen oft berüchtigt sind. Ich versuche nicht, in der Darstellung der Palastmauern oder der Gürtelschnallen, Fehler zu finden. Lieber lasse ich mich von den Serien inspirieren: HBOs «Rome» ist diesbezüglich wunderbar. Da wird auch mal das dreckige Rom gezeigt. Die waten da knöcheltief durch den Matsch. Man kann sich natürlich fragen, ob das so stimmt. Aber es ermutigt eben auch, sich zu fragen: Wie haben die Strassen Roms im Alltag wohl tatsächlich ausgesehen? Was beschäftigte das Leben des ‘gemeinen’ Römers? Sicherlich eben nicht so sehr die Senatsreden, mit denen wir uns oft beschäftigen… So helfen solche Serien dabei, neue, interessante Fragestellungen zu finden.
«Games über die Antike haben eine Reichweite von bis zu 100 millionen Menschen. In meiner Vorlesung sitzen nursechzig Leute.»
Anders als in den Uni-Seminaren gelten Antike-Themen in der Populärkultur ja als alles andere als verstaubt.
Absolut. Deshalb mache ich im Frühlingssemester 2024 das BA-Seminar «Antike Geschichte. Digital erleben». Wir schauen uns da Youtube-Kanäle, Filme und Computerspiele an. Schauen Sie: In meiner Vorlesung sitzen etwa sechzig Leute. Wie viele Leute aber bilden sich ihr Antike-Bild in einem solchen Computer-Spiel? Diese Produkte haben eine Reichweite im Bereich von 25 bis 100 Millionen. Wir wollen uns im Seminar anschauen, welche Bilder von Antike transformiert werden und wie man das produktiv nutzen kann.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte sind Kulturkontakte und -konflikte im Mittelmeerraum. Inwiefern sehen Sie bei diesem Thema Parallelen zwischen der Antike und der Gegenwart?
Wir leben in einer globalen Welt, doch das Verständnis für den «Anderen» nimmt immer mehr ab. Es gibt in Europa riesige Irritationen darüber, was im Iran abläuft oder in Afghanistan. Man muss sich aber fragen, inwiefern wir in unserem westlichen Denken verhaftet sind und inwiefern wir das auf andere Räume projizieren. Sonst entstehen Reibungspunkte und Irritationen, die momentan zwischen West und Ost zunehmen. Diese Beobachtung kann man natürlich so nicht eins zu eins auf die Antike übertragen. Aber es gibt teilweise ähnliche Muster: beispielsweise das oft auf die Griechen projizierte West-Ost-Denken, bei dem der Westen für die Sonne, die Demokratie und die «hohe Kultur» steht und der Osten für das Dunkle, Despotismus und die Barbarei. Gleichzeitig gibt es bereits in der Antike viele Versuche, das «Andere» zu verstehen und eben nicht in diesen Stereotypen stecken zu bleiben.
«Nach der Rezension im etü hatte ich drei Tage lang gute Laune»
Zeitgleich zu Ihrem Angebot für eine Professur in Zürich haben Sie auch eine Berufung an die Humboldt-Universität in Berlin erhalten. Weshalb fiel der Entscheid für Zürich aus?
Hier in Zürich hat die Alte Geschichte mit drei Professuren doch noch einen wichtigen Stellenwert. Ich konnte mir dabei von Anfang an sehr gut vorstellen, mit Victor Walser und Anne Kolb zusammenzuarbeiten. Wir ergänzen uns perfekt.
Das wird aber kaum der einzige Grund gewesen sein. In Berlin hätten Sie sicherlich auch tolle Kolleg:innen gehabt.
Absolut! Ich hätte in Berlin tolle Kolleg:innen gehabt und man hat sich sehr um mich bemüht. Es war alles andere als eine einfache Entscheidung. Zürich hat mir letztendlich aber auch sehr imponiert in Hinblick auf die universitäre Selbstverwaltung – alles ist hervorragend organisiert und funktioniert schnell und unbürokratisch. Man merkt extrem, dass hier mehr Geld für administrative Unterstützung vorhanden ist: Nur ein paar Beispiele: Dank Edith Darnay vom Seminarsekretariat kann ich schnell und unbürokratisch neue Leute einstellen, Fatima Leine hat immer schnell eine Lösung, Livia Merz macht eine hervorragende Arbeit in der Lehrplanung. Wenn ich ein IT-Problem habe, rufe ich Ben Fritsche oder Francesco Fallone an – innerhalb kurzer Zeit ist mein Problem gelöst und ich habe erst noch super Laune, weil Francesco immer so toll lacht.
In Deutschland ist das sehr anders?
In Deutschland ist alles zentral organisiert. Wenn ich ein IT-Problem habe, geht es ewig, bis mein Ticket mal eingelöst wird. Wenn ich jemanden einstellen möchte, kann das lange dauern – ein typisches Problem von deutschen unterfinanzierten Universitäten.
«Ich sass nägelkauend vor dem Computer»
Ein Problem, das sich auch in der Überbelastung der wissenschaftlichen Mitarbeitenden niederschlägt.
Genau. In Deutschland wurde die Bibliothek nicht von Fachpersonal, sondern von den wissenschaftlichen Mitarbeitenden betreut. Während meiner Qualifikationsphase für die Habilitation war ich zeitgleich für die Bibliothek und die Lehrkoordination zuständig und hatte gleichzeitig fünf Semesterwochenstunden…
Der etü hat damals ja über Ihr Vorsingen an der Uni berichtet…
(lacht) Das habe ich natürlich mitbekommen. Beat Näf sandte mir den Beitrag ein paar Tage später zu. Ich sass nägelkauend vor dem Computer und bin erst mal völlig erschrocken. Ich habe mit dem Bericht angefangen und dachte «um Gottes Willen – was schreiben die über mich?» Die Defizite der einzelnen Kandidat:innen wurden ja schon recht deutlich benannt. Bei jemandem wurde etwa vermerkt, die Person sei nervös gewesen. Ich scrollte also ebenfalls nervös nach unten, bis ich zu meinem Text gelangte – und fand es dann sehr nett. Die Person, die das geschrieben hat, hat das derart nett und einfühlsam geschrieben, dass ich für drei Tage gute Laune hatte.
Der Bericht im etü war also eine Motivation für Sie?
Sehr. Sehen Sie – die prekäre Phase als Habilitierter ist nicht immer ganz einfach. Oftmals scheitern Sachen; man bekommt viele Absagen und zweifelt an sich selbst. Zuerst war ich deshalb auch irritiert von der etü-Berichterstattung. Ich fand es krass, wie die Studierenden in Zürich öffentlich urteilten. Mein damaliger Chef an der Uni Würzburg hat mich aber schnell auf folgenden zwei Dinge aufmerksam gemacht: Er sagte, es sei sehr gut, dass sich Studierende investigativ für die Belegung der Professuren interessieren. In Würzburg kam das nicht vor, dass bei einem Vorsingen von studentischer Seite aus darüber berichtet wurde. Und er sagte auch: «Als Profs sind wir Personen des öffentlichen Interesses und wir müssen so etwas aushalten». Und damit hatte er auch recht.
Der Bericht im etü war eine ganz grosse Motivation für mich, gerade weil er so ehrlich geschrieben war. Ich hatte nicht den Eindruck, dass über jeden und jede positiv geschrieben wird. Es war für mich eine Bestätigung und Motivation zugleich. Danach habe mir noch mehr gewünscht, dass es mit der Professur in Zürich klappt. Ich dachte «OK, so schlecht kam ich ja doch nicht an».
Die Berichterstattung im etü war also am Ende der wahre Grund, weshalb Sie nach Zürich gekommen sind.
(lacht) Haha, ja, das können Sie so schreiben. Spass beiseite: Es war toll, so positiv aufgenommen zu werden von Studierendenseite. Meine Entscheidung, nach Zürich zu kommen, habe ich nie bereut: Am Morgen funktioniert alles mit Chindsgi und Schule für die Kinder. Man freut sich, dass dann auch noch die S-Bahn pünktlich kommt. Wenn man dann den See sieht, wenn man vom Stadelhofen zum Bellevue läuft, startet man schon gut in den Tag. Und wenn man dann an der Uni noch vielen Kolleg:innen begegnet, die auch schon gute Laune haben, motiviert mich das jeden Tag aufs Neue.