Im Rahmen der «Applied History Lectures» an der Universität Zürich hielt Prof. Henner Fürtig, Direktor des Hamburger GIGA-Instituts für Nahost-Studien, einen Vortrag zur islamischen Welt im 21. Jahrhundert. Ein Einblick in die Chancen und Probleme der historischen Prognostik am Beispiel einer im Chaos versinkenden Region.
Der Geschichte eine Prognose darüber abzuringen, was die Zukunft für die Menschheit bereithält, ist ein Unterfangen, das vermutlich genauso oft angegangen worden wie gescheitert ist. Dass sich Geschichte nämlich nicht wiederholt, ist wohl der bekannteste Gemeinplatz der historischen Forschung überhaupt und wird inzwischen so oft wiederholt, dass wohl die Wenigsten dieser Feststellung widersprechen würden. Dennoch wäre es wahrscheinlich falsch, den Versuch einer Prognostik von vornherein für unmöglich zu erklären und nicht zumindest aus ihm und seinem möglichen Scheitern eine Lehre ziehen zu wollen. Genau dieser Gedanke steckt vermutlich hinter der im Herbstsemester 2016 von dem Weiterbildungsprogramm «Master of Applied History» der Universität Zürich durchgeführten Veranstaltungsreihe zum Thema «Was wird? Möglichkeiten und Grenzen der Prognostik».
So widmete man sich am letzten Freitag denn auch einem Thema, bei dem es angesichts der aktuellen Weltlage und der grossen Zuhörerzahl wohl am ehesten der Prognose über die zukünftige Entwicklung bedarf. Aus Hamburg angereist kam der Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien, Prof. Henner Fürtig, und widmete sich der Frage, was man aus der jüngeren Geschichte des Islam für die Vorhersage einer möglichen Entwicklung der islamischen Welt im 21. Jahrhundert ableiten könne.
Dass die Regionen, in denen der Islam die vorherrschende Religion darstellt, in den letzten hundert Jahren einen immensen Wandlungsprozess durchgemacht haben, zeigt sich in zwei Fotographien, die Fürtig zu Beginn seines Vortages an die Wand projiziert. Das erste zeigt eine Strandszene in Ägypten im Jahr 1958, in der fröhliche Frauen mit offenen Haaren im Bikini posieren, das zweite einen Strassenmarkt in Kairo im Jahr 2016, das von vollverschleierten Frauen in schwarzen Gewändern dominiert wird. Die Aussage, die sich in diesen beiden Bildern manifestiert, zieht sich im Grunde durch den gesamten Vortrag: die radikalen und politisierten Ausprägungen des Islam haben in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen. Auch wenn – diese Feststellung ist wichtig – bis heute eine Mehrheit der Muslime einen politischen Auftrag des Islam ablehnt und sich damit nicht gross vom Allgemeinkonsens im säkularisierten Europa unterscheidet, so scheint diese Entwicklung doch erschreckend.
Der Hamburger Professor entdeckt vor allem zwei Krisenfaktoren, die diese Politisierung in den letzten zweihundert Jahren derart vorangetrieben haben. Dies war zum einen der Kolonialismus, der beginnend mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons im Jahr 1798 zu einem steten Rückzug und in den Augen der Muslime gar zu einem ungeahnten Bedeutungsverlust des Islam führte. Dem Reformislam, der aus dieser Erfahrung erwuchs, da viele Gelehrte der Überzeugung waren, man müsse die alten verkrusteten Traditionen aufbrechen und die alten Quellen neu interpretieren, war jedoch kein grosser Erfolg geschenkt. Vielmehr wurde er durch radikalere Strömungen wie der Muslimbruderschaft oder dem Salafismus unterwandert und in einer verheerenden Weise pervertiert.
Zum anderen reiht sich aber auch der Prozess der Globalisierung in dieses Krisennarrativ ein. Die politische Marginalisierung, wirtschaftliche Abkoppelung und kulturelle Entfremdung führte und führt bis heute zu einer radikalen Hinwendung zum Islam, als dem einzigen verbliebenen Authentischen in einer fremd gewordenen Welt.
Müssen wir, um zum Anfangspunkt der Prognostik zurückzukehren, in Zukunft angesichts eines wachsenden Anteils der Muslime an der Gesamtweltbevölkerung also mit einer Ausbreitung dieses politisierten radikalen Islams rechnen? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten. Fürtig schaut jedoch mit Hoffnung in die Zukunft. Zum einen habe sich der Islam in seiner über tausendjährigen Geschichte stets als wandelbar und flexibel erwiesen und der der Islam sei nicht nur das, was wir heute von ihm wahrnehmen. Sondern, so formulierte Fürtig beinahe tautologisch, stets das, was die Muslime daraus machten. Man müsse bedenken, dass der Islam die jüngste der drei Buchreligionen darstelle und sich klar machen, wie lange das Christentum gebraucht habe, um dahin zu gelangen, wo es heute steht. Zum anderen ist der Reformislam des 19. Jahrhunderts für Fürtig noch nicht tot, er verwies auf die beiden in dieser Hinsicht bedeutenden Islamwissenschaftler Tariq Ramadan und Abdolkarim Soroush, die beide an angelsächsischen Universitäten lehren. Die Betonung des Unterschieds zwischen göttlicher Offenbarung und Interpretation ginge von Instanzen wie diesen aus, auch wenn – und das ist durchaus ein Problem – eine derartige Lehre an vielen nahöstlichen Universitäten heute nicht möglich wäre.
Die Prognose, wen mag es verwundern, bleibt also dünn, mehr als ein paar vage Hoffnungen darf man sich nicht erwarten. Ob derartige, gemeinhin schon an Allgemeinbildung grenzende Formulierungen tatsächlich den Namen «historische Prognostik» verdienen, ist fraglich. Ausserdem wird in den Ausführungen Fürtigs ein Fortschrittsdiskurs bedient, den man in dieser Art und Weise durchaus kritisieren muss. Wer der Überzeugung ist, dass eine Kultur sich in einer dem Weg des Christentums nachempfunden Weise der langsamen Aufklärung entwickeln solle und dies dann als beste «Hoffnung» präsentiert, läuft schnell Gefahr in einen Eurozentrismus zu verfallen. So verwundert es kaum, dass ein Historiker, der einen «richtigen Weg» als Vorbedingung für eine Prognose nimmt, nicht mehr kann, als seine Hoffnung kundzutun, dass dieser auch eingeschlagen wird. Doch sind Historiker andererseits auch keine Auguren, die aus ihren Schriftquellen die Zukunft herauslesen können. Man muss es Henner Fürtig also dennoch anrechnen, dass er sich nicht in wilde Spekulationen verrennt, sondern sachlich bei bestimmen Möglichkeiten bleibt, auch wenn sich manche Zuhörer – man sieht es an den gestellten Anschlussfragen – vielleicht mehr erhofft hätten.