Warum darf uns nicht egal sein, was mit den japanisch-stämmigen US-Bürgern während des Zweiten Weltkrieges passierte? Warum darf uns der Unterschied zwischen la camisa negra von Enrique Iglesias und le camicie nere von Benito Mussolini nicht egal sein? Warum darf uns der Faschismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht egal sein? Warum darf uns die Geschichtswissenschaft nicht egal sein? Warum nicht?
Vor einiger Zeit sass ich zusammen mit vielen hundert anderen in der Aula unserer Universität. Dass ich dabei auf der Empore aus Platzmangel auf der Treppe sitzen musste und weder etwas sah, noch besonders viel hörte, tut dabei nichts zur Sache. Warum sass ich auf dieser Treppe? Meine Begleiter an diesem Abend waren Studierende der Politologie. Und obwohl die Politikwissenschaft und die Geschichtswissenschaft eigentlich ja Halbgeschwister sind und sich als Gefährten unterstützen sollten, befinden wir uns eher in einem andauernden antagonistischen Diskurs, wessen Studium jetzt überflüssiger bzw. gemütlicher sei. (Natürlich ist es eher eine Diskussion um des Diskutierens Willen, eher freundschaftliche Polemik als ernstgemeintes Streitgespräch; typisch Geschwister eben). Wir befinden uns also im andauernden Hin und Her zwischen: «Euch fehlt grundsätzlich ein Gegenwartsbezug. Was hat es für einen Nutzen, sämtliche wichtigen Lebensdaten von Adolf Hitler und Charles de Gaulle zu kennen, aber nicht erklären zu können, warum die Deutschen einen föderalistischen Staat haben und die Franzosen nicht? Oder die Pros und Cons der verschiedenen Staatsformen zu kennen? Euer Studium ist ja so oder so extrem ‘chillig’. Ihr macht ja nichts anderes als Lesen» und «Ohne uns hättet ihr überhaupt keine Ahnung, was ihr analysieren sollt. Ihr hättet ja nicht einmal die leiseste Idee, dass es vor der Demokratie bereits etwas gab; oder was dieses ominöse Etwas denn gewesen sein soll. Und was macht ihr denn überhaupt anderes als Lesen?» Nur selten sind wir uns wirklich einig – etwa dann, wenn es darum geht, dass Publizistik und Soziale Arbeit nun wirklich chillige Studiengänge seien oder dass man niemals «zu viel» Pasta essen könne.
Aber man will ja schliesslich nicht so sein. Ausserdem hat ein guter Historiker über alles etwas zu wissen. Daher folgte ich den Politikinteressierten in den Vortrag mit dem Titel «Power and progress: Geopolitics and the future of democracy under President Trump» des amerikanischen Politberaters und Kolumnisten Dr. Robert Kagan. Schon befinden wir uns wieder auf dieser knirschenden Holztreppe. Im grössten Teil seines Vortrags rekapitulierte Kagan, wie das demokratische System Europas sowie Ostasiens seit den Pariser Vorortsverträgen, dem wohl verheerendsten Diktatfrieden der neueren Geschichte, zustande kam und sich über die Jahre veränderte. Unpassende politische Verhältnisse in den USA, unsichere Franzosen, unglückliche Deutsche, dann Zweiter Weltkrieg, Vereinte Nationen, Eiserner Vorhang, Weltpolizist. So die Kurzfassung.
Nach seinem kleinen Abstecher in die Vergangenheit kam Kagan auf den POTUS (President Of The United States) zu sprechen und lokalisierte dabei den Ursprung der Gefährdung der politischen Lage Europas an einer ganz ausserordentlichen Stelle: Im Gedächtnis der Bevölkerung und – vor allem – der neuen politischen Führungsriege der USA.
Die Vereinigten Staaten hätten mit der Rolle des vordersten Verfechters der Demokratie und des Weltpolizisten eine unglaubliche Bürde auf sich genommen, so Kagan. Denn diese Tätigkeit habe von Anfang an eine Menge Investitionen verlangt, ohne einen greifbaren, messbaren Gewinn abzuwerfen. Logisch: Im Kapitalismus, in dem jeder Schritt nach seiner Rentabilität bewertet und dauernd nach Möglichkeiten der Kostenoptimierung untersucht wird, müssen 70 Jahre voller Aufwand und ohne jegliche Belohnung für einen Präsidenten der Wirtschaft geradezu ruinös wirken.
Und nun, 2017, sei die Zeit gekommen, führte Kagan schliesslich weiter aus. Nun, nach 70 Jahren, komme die erste Generation an die politischen Machthebel der USA, die vergessen hat. Die vergessen hat, welche Gräuel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorangingen, ehe die westliche Welt es schaffte, dass die Demokratie, dass die internationale Kooperation und dass die suprastaatlichen Institutionen zumindest theoretisch einen glänzenden Siegeszug einläuteten. Genau dieses Vergessen sei es, das eine akute Gefahr für die Stabilität der Demokratie im sogenannten Westen darstelle und im schlimmsten Fall verheerende Folgen haben könne.
Ist es nun nicht genau an der Geschichtswissenschaft, eine Art Renaissance einzuleiten? Wir müssen uns wieder bewusst werden, welche Bedeutung wir auch ausseruniversitär haben, ja eher noch welche Verantwortung. Geschichtsvergessenheit ist gefährlich und das Erinnern an historische Ereignisse birgt zumindest die Chance, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen. So wie man sich im 15. Jahrhundert zu den Reichen der Antike zurückwandte, könnte es jetzt an der Geschichtswissenschaft sein, sich verstärkt auf die Ereignisse der neueren und neusten Geschichte zu konzentrieren. Oder zumindest könnte diesen Branchen nun eine verstärkte Bedeutung zukommen. Wir müssen wieder Bilder zeigen, wir müssen wieder Ausstellungen organisieren, wir müssen wieder an die Menschlichkeit der Menschheit appellieren. Kurz und gut: Die Geschichtswissenschaften müssen wieder aktiver werden. Es braucht wieder Geschichte!
Nehmt das, Politologen!