Fünf Kandidierende, eine Frage: Wer schafft es auf den heiss begehrten Lehrstuhl im wunderschönen Zürich? Wer wird Meister*in des Anthropozäns? Die spannendste Casting-Show der Zoom-Ära, die erste Berufung zwischen Couch und Küchentisch. Ein Freudenfest aus Fussnoten, Fangfragen und Worthülsen. Und das Best-of hier im etü-Report.
Pünktlich um 14.00 eröffnet am 22. Oktober 2020 der Gong der Universität die Vorlesungsreihe von fünf potentiellen Nachfolger*innen der neuen Geschichtsprofessur – über Zoom.
Vor (imaginärem) Ort: Zahlreiche Professor*innen und Dozent*innen des Historischen Seminars sowie einige Studierende – die Zahl der Anwesenden variiert zwischen 65 und 90.
Zu tun: Den fünf Bewerber*innen für den altershalber freiwerdenden Lehrstuhl von Philipp Sarasin auf den Zahn fühlen. Ausgeschrieben ist die Professur für die Geschichte des Anthropozäns ab Februar 2022. (Anthropo-was? Siehe Box unten.)
Mit dabei: Die Stände – alle Studierenden, der Forschungsnachwuchs und Privatdozierende. Und die Berufungskommission mit je einer Ständevertretung und einer Auswahl an Professor*innen – auch zwei externen.
Was: Die potentiellen Nachfolger*innen – vier Frauen, ein Mann – durchlaufen einen langwierigen Bewerbungsprozess. Das Kernstück: Ein Vortrag über ihr aktuelles Forschungsthema in 25 Minuten – das sogenannte «Vorsingen». Dann ein Ständegespräch für Fragen wie «Was war Ihr bisher bestes Modul?» Und schliesslich das Jobinterview mit der Berufungskommission, die daraufhin eine Berufungsliste mit drei Namen erstellt. Nach erneuter Begutachtung wird daraus der oder die neue Zürcher Meister*in des Anthropozäns ausgewählt.
Anthropozän – das Zeitalter des Menschen
Anthropo-was? Unter
Geisteswissenschaftler*innen ist das Konzept noch relativ neu. Ursprünglich geprägt wurde es von
Vertreter*innen der Geologie, die ein neues Erdzeitalter des Menschen
postulierten. Dies weil wir durch den Klimawandel und andere Eingriffe das
System Erde so nachhaltig beeinflussen, dass unsere Spuren noch in Millionen
von Jahren in Gesteinsschichten erkennbar sein werden. Und wenn der Mensch ins
Spiel kommt, wird es auch für Historiker*innen interessant. Dipesh Chakrabarty
hat mit seinem zentralen Aufsatz «The Climate of History» 2009 das Konzept des
Anthropozäns prominent in die historische Diskussion eingebracht. Mit dem
Menschen als geologischem Faktor würden fundamentale Annahmen der
Geschichtswissenschaft herausgefordert. Geologische Zeit kollidiere mit
historischer Zeit, die uralte Unterscheidung von Naturgeschichte und
Menschheitsgeschichte müsse aufgelöst werden. Geschichte müsse zur
Speziesgeschichte werden, da die Menschheit als Ganzes betroffen sei. Diese Überlegungen
stossen auch auf Kritik, gerade weil sie teils sehr theoretisch daherkommen. Angesichts
der aktuellen Relevanz von Umweltthemen entspricht der neue Lehrstuhl für die
Geschichte des Anthropozäns aber durchaus den Zeichen der Zeit.
«Night as Environment: Light Pollution and the Anthropocene»
Die Technologie- und Umwelthistorikerin (warum nennen wir keine Namen? Siehe Box unten) fasst ihre Arbeit zu Lichtverschmutzung im Anthropozän in fünf Kapiteln zusammen. Sie legt wohlstrukturiert zu Beginn ihr Interesse am Thema dar und präsentiert zum Schluss ihre These ab Blatt. Und die lautet: Das von NASA Suomi-Satelliten aufgenommene Foto der Erdkugel bei Nacht –mit Blaustufen und gelben Lichtpunkten neu eingefärbt, ursprünglich aber schwarz-weiss – zeige ein konstruiertes, romantisierendes Bild und nicht die Realität. Die NASA habe in diesem Bild Dunkelheit mit Natur und Licht mit Kultur verbunden.
Die Dozentin spricht dabei sowohl Lichtverschmutzung wie auch Lichtarmut an, wobei ihr nicht immer leicht zu folgen ist. Ob dies an der neuen Materie, der englischen Sprache oder den zahlreichen Satellitenbildern liegt, ist schwer zu sagen. Die provokative Frage einer Studentin – wo denn dabei die «Geschichte» bleibe –, beantwortet sie mit dem Hinweis, sie mache eher Zeitgeschichte als bis ins Mittelalter zurückzugehen. Sie meinte ausserdem, dass der politische und technische Kontext sowohl Technik und Anwendung der Satelliten als auch das Narrativ zur Lichtverschmutzung prägen würden. Alles klar?
Die wohl nicht für sie gedachte Nachricht «hey linda, hesch de müll scho usegstelld?» im allgemeinen Zoom-Chat brachte sie dafür nicht aus dem Konzept. Und sie schmunzelte freundlich über das Wortspiel, ihr Vortrag sei sehr «erhellend» gewesen. Über die Frage, welchen Gewinn der historische Perspektivenwechsel zum Anthropozän bieten kann, möchte sie noch weiter nachdenken. Unklar bleibt: Wie würden wir Studierenden in Ihren Seminaren forschen und mit welchem Fokus?
«The Past of Climate Futures. Law and Weather Knowledge in the Indian Ocean World»
Wie alle anderen vier liest auch diese Referentin vom Blatt ab, und zwar in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Abgesehen davon überzeugt sie aber auf ganzer Linie. Nicht zuletzt im Ständegespräch: Sowohl als Betreuerin als auch Dozentin wirkt sie kompetent und an ihrem Gegenüber interessiert. «I want to teach students that disagreeing is a healthy form of developing questions», sagt sie mit Nachdruck. Ihr bisher liebstes Seminar sei eines mit fachfremden Studierenden gewesen, weil sie von ihnen viel habe lernen können. Auch in Zürich wäre sie offen für institutsübergreifende Kooperationen.
Was ihre Forschung betrifft, wäre die Referentin eine passende Ergänzung für das HS. Ihre postkoloniale Perspektive auf das Anthrophozän verbindet global-, wirtschafts- und wissenshistorische Ansätze. Am Beispiel kolonialer Schiffahrt in Britisch-Indien untersucht sie, wie ab Mitte des 18. Jahrhunderts Versicherungsfragen das Wissen über die Umwelt veränderten: Risiken wurden in Profite übersetzt und gaben so eine wissenschaftliche Agenda vor. Die Referentin arbeitet dazu mit Quellen wie Navigationskarten oder Almanachen, aber auch mit Klimadaten.
Sie befragt koloniale Handelsarchive kritisch: Wie wurde volkstümliches versus koloniales Umweltwissen produziert, verhandelt und vermittelt? Welche Verflechtungen gab es? Welche Fragen wurden gestellt, welches Wissen wurde zu Wissenschaft – und welches fand keinen Eingang in den Markt der Ideen? Ihre Forschung wird so auch zu einem Ausgangspunkt, zeitgenössische Konzepte und Praktiken wie green assets oder Climate Risk Management kritisch zu hinterfragen. Man müsse in die koloniale Zeit zurückgehen, um diese Dynamiken zu verstehen, meint sie. Im Seminar abgelöscht dazusitzen, wäre bei dieser Referentin sicher ziemlich schwierig.
«Elementare Verschiebungen. Neues und altes Wasser in der Geschichte der Atacama Rohstoffwüste»
Als «erdzugewandte Gesellschaftsgeschichte» möchte die Referentin das Anthropozän verstehen. In ihrem Vortrag versuchte die Umwelthistorikerin aufzuzeigen, wie man anhand des Beispiels der Atacamawüste in Chile erforschen kann, wie verschiedene Akteur*innen die Umwelt in ihren Alltag einbinden und mit ihr interagieren. Sie fächert dabei die ganze Palette an Ideen auf, fokussiert dann aber auf terrestrische Substanzen, die sie als «Material mit Folgen» statt als «Objekte mit Funktionen» lesen möchte – dies etwa im Fall von Plastik. Es gehe in ihrer Forschung darum, diese qualitativ unterschiedlichen Dinge in einen Zusammenhang zu bringen. Dies etwa mit der Kulturtechnik des Massstabwechsels, welcher eine zentrale Analysekategorie für die Anthropozändiskussion darstelle.
Der Vortrag wurde grundsätzlich solide gehalten (wenn auch mit einer gehörigen Portion komplizierter Begriffe) und die Referentin wirkte in der anschliessenden Diskussion sowie im Ständegespräch sicher und sympathisch. Interessant für zukünftige Studierende könnte sein, dass sie verspricht, den Lehrstuhl in der Gesellschaft zu platzieren. Ausserdem wolle sie Studierende in Archive für Umweltgeschichte einführen – teils in der Schweiz, teils aber auch digital in solche aus Lateinamerika. Ihr sei es wichtig, Studierenden ein Grundvertrauen entgegenzubringen und ihnen beizubringen, erdwissenschaftliche und ökologische Themen in ihre Forschung miteinzubeziehen. Denn Perspektivenvielfalt in der Geschichtswissenschaft sei für sie zentral.
«Der Mann von nebenan» ist passioniert, trägt mündlich vor – und interessiert sich für Flechtenkarten, deren politisches Sprengpotential in der Flughafenplanung er an seinem Stehpult zu beschreiben versucht. Er doziert zurzeit an der ETH Zürich – und wirkt tatsächlich sehr nahbar. Nicht nur, weil die Erinnerungen an seine Zeit als Doktorand noch frisch wirken und er humorvoll-ironisch zugibt, dass sich unliebsame zukünftige Mitarbeiter*innen (wie er konsequent mühelos gendert) wegen Corona leider nicht mehr so einfach in den nächsten Flieger setzen lassen würden.
Thematisch fokussiert seine bisherige Forschung auf die Analyse des «Umweltwissens» in Europa und der Schweiz. Als mögliche Forschungsthemen für künftige Studierende nennt er die Geschichte der Wasserindustrie und des Mittellandes. Ihm selbst geht es um die Räume, in denen Umweltwissen produziert wurde und wird – am besten lokal und konkret. Beim wiederholten Massstabwechsel von Mikro-, Meso- und Makroebene, wie er ihn praktiziere, brauche es Übung im Umgang mit Instrumenten zur Analyse der ökologischen, sozialen und politischen Verflechtungen.
Seine Lehre dürfte dabei wohl auch über die Zeitgeschichte hinausgehen, meint er. Und betont im Ständegespräch, dass er in Seminaren nebst dem thematischen Inhalt auch weitere wissenschaftliche Fachkompetenzen wie Diskussionsführung, Präsentationen und besonders schriftliche hard skills fördern möchte. In der Betreuung sehe er die Herausforderung speziell darin, eine menschliche, aber gleichzeitig konsequent sachliche Unterstützung zu bieten. Eine Frage, die er gleich selbst in die Ständerunde stellt, dürfte uns wohl alle interessieren: Was wird eigentlich vom Lehrstuhl für die Geschichte des Anthropozäns alles erwartet?
«Krisen der Wirklichkeit»
Eine Geschichte des Anthropozäns müsse als Wissensgeschichte ökologischen Denkens geschrieben werden. Dafür plädiert eine Kandidatin, die derzeit in Berlin lehrt. Denn ökologisches Denken – das habe es schon lange vor dem Begriff «Anthropozän» gegeben. In ihrem Vortrag erläutert sie, wie die sogenannte «Krise der Wirklichkeit», ein Umbruch in der Biologie der 1920er-Jahre, die Geisteswissenschaften jener Zeit prägte. Sie legt ihr Augenmerk dabei auf einige Tage, die gewichtige Denker wie Theodor Adorno, Ernst Bloch und Walter Benjamin in Neapel verbrachten, der damaligen Metropole der Biologie. Als Quelle dienen ihr dabei vor allem Schriften dieser Männer. Es geht dabei etwa darum, wie Neapel einen ganz eigentümlichen Weg in die Moderne fand, indem in neuartigen Aquarien die Grenzen zwischen Mensch und Umwelt verschwammen.
Der Text ihres Vortrages ist in einer ziemlich komplexen, teils fast poetischen Sprache verfasst, was es den Zuhörenden nicht immer leicht macht zu folgen. Überhaupt ist diese Kandidatin, die eher Kulturwissenschaftlerin als Historikerin ist, in ihrer Forschung sehr theoretisch unterwegs. Wie überträgt sich das wohl auf ihre Lehre? Didaktisch sowie zwischenmenschlich wirkt sie jedenfalls sehr kompetent. Als Professorin wolle sie Exkursionen durchführen und Kooperationen mit Museen und anderen Institutionen anstreben. In Seminaren setze sie ganz klassisch auf einen guten Text, der Diskussionen bei den Studierenden anrege. Auf die Frage danach, wie die Betreuung von Doktorierenden aussehen solle, entgegnet sie, dass sie Betreuung als ein unpassendes Wort empfinde, da es Unselbstständigkeit impliziere. Ihr liege es am Herzen, Doktorierenden auf Augenhöhe zu begegnen und als Ansprechpartnerin dort Unterstützung zu bieten, wo sie gefragt sei.
«Häsch du de Zoom-Link zude Probevorträg?» – Kommunikationspannen, geheime Namen und geringe studentische Beteiligung
Eigentlich standen die Probevorträge der Lehrstuhlanwärter*innen allen Studierenden des HS offen. Das dürften aber wohl längst nicht alle erfahren haben. Es wurde kein Informationsmail an die Geschichtsstudierenden versandt und auch auf der Website nirgends informiert. Es existierte ein Einladungsschreiben mit Zoomlink, das in den Wochen vor den Vorträgen zu zirkulieren begann. Aufgrund des Datenschutzes durfte dieses aber nicht breit gestreut werden. Und auch dem etü wurde durch die Seminarleitung mitgeteilt, dass nur die Titel, nicht aber die Namen der Anwärter*innen öffentlich publiziert werden dürften (wobei eine Professorin auf Twitter zunächst das Gegenteil behauptet hatte).
Stattdessen sollten die Dozierenden die Information in ihren Modulen verbreiten – und den Probevorträgen bei parallel stattfindenden Lehrveranstaltungen den Vorrang geben. Einen grossen Effekt hatte dieses Vorgehen allerdings nicht, sodass Studierende an den Vorträgen einen eher kleinen Teil ausmachten.
Ihre Meinung einbringen konnten die Studierenden dennoch: vertreten durch eine Person als Stimme aller in der Berufungskommission. Um diese Stimmen abzuholen, gab es eine eigene Ständediskussion am Freitag gleich nach den Probevorträgen, an der sich die Studierenden austauschen und gemeinsam einen Listenvorschlag erstellten. Diesen Vorschlag trug die Studierendenvertetung dann in die Berufungskomission. Da diese Ständediskussion in der Einladung allerdings nicht vermerkt war und ein zusätzlicher Informationsversuch von Seiten des Fachvereins nicht mehr rechtzeitig gelang, war dieses Gespräch noch weniger Leuten bekannt.
Bezüglich richtiger Kommunikation und Informationsverbreitung liesse sich also wohl vonseiten des HS noch einiges verbessern, wenn das Mitspracherecht der Studierenden tatsächlich breit genutzt werden soll. Sonst wird auch in Zukunft gelten, was letzte Woche galt: über verschlungene Kanäle ein Foto des Einladungsbriefs besorgen und von Hand den Zoom-Link abtippen – nur um vom wichtigsten Treffen trotzdem nicht zu erfahren.