Verwaiste Strandbäder, verpasste Zoom-Sitzungen und Geschichten davon, wie die ganz Jungen und ganz Alten gerade zurechtkommen. Zum Semesterende der letzte Teil unseres Corona-Tagebuchs von Helena Dobiess, Studentin der Geschichte und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft im 2. Bachelorsemester.
Morgen beginnt die letzte Woche Unterricht des Semesters. In meinem Kopf schwirrt vierundzwanzig Stunden am Tag eine To Do-Liste herum. Morgens um sechs, wenn ich eigentlich noch schlafen möchte, nimmt sie die Form einer blinkenden Warnsirene an und treibt mich von meinem Bett direkt an den Schreibtisch. Einen so resignierten Tatendrang, wie ich ihn in letzter Zeit verspüre, habe ich selten erlebt.
Später treffe ich mich mit einer Freundin in unserem Lieblingscafé, wir sitzen draussen auf dem glyzinienüberwachsenen Sitzplatz und planen unseren Ausflug ins Chalet ihrer Grossmutter, der ansteht, sobald die Prüfungen vorbei sind. Vorfreude herrscht: fünf Tage Baden, Wandern, Grillieren und Faulenzen. Wir bleiben und trinken noch bis spät in den Abend hinein, reden schon lange von anderen Dingen.
Wieder bin ich um sechs Uhr schon wach, die Sonne strahlt in mein Zimmer. Eine Freundin, die im Spital arbeitet, hat seit heute Ferien, eigentlich wollte sie weg. Sie fragt mich, ob wir an einen kleinen Badesee in der Nähe wollen. Ich stimme zu, aber bitte erst später nachmittags, meine Lateinabschlussprüfung ist nicht einmal mehr zwei Wochen entfernt und Cäsars Satzstrukturen lösen bei mir immer noch Kopfweh und Verzweifeln aus. Das Strandbad befindet sich in einem komischen Zustand von Halbnormalität: die Liegewiese und der Gastrobetrieb sind geöffnet, aber der Sprungturm und das Floss abgeseilt, Eintritt darf keiner verlangt werden. Die Menschenleere und das rotweisse Absperrband lassen das Gelände unheimlich erscheinen, als wäre hier ein Verbrechen geschehen. Eigentlich ist es zu kalt zum Baden, aber man kann ja nicht ewig auf den Sommer warten. Wir schwimmen bis in die Mitte des kleinen Sees und wieder zurück. Dann legen wir uns in die Wiese, naschen Erdbeeren und probieren uns zu sonnen, immer wieder kommen Wolken auf und es wird kühl. Wir zittern ein wenig und warten darauf, dass sie vorbeiziehen.
Irgendwie schaffe ich es heute nicht, mich zu konzentrieren. Zu Hause lenkt mich alles ab, ich fühle mich ein bisschen wie der Panther aus Rilkes Gedicht, unruhig und müde zugleich. Ich muss raus. Ich frage bei einer Freundin nach, ob ich bei ihr arbeiten darf und packe meine Sachen.
Der Szenenwechsel hilft, aber auch nur ein wenig.
Als ich wieder zu Hause bin, klingelt das Telefon. Meine Grossmutter ruft aus Chicago an. Sie erzählt mir, wie langweilig ihr ist, fragt, was es Neues gibt. Ich hab auch nicht viel zu berichten. Ihre Friseurin Becky, bei der sie seit Jahren Stammkundin ist, ist eigens mit Mundschutz zu ihr nach Hause gefahren. Sie mache das für lau, aber wenn meine Grossmutter zahlen möchte, dann bitte nur in Bar, schliesslich dürfe sie gerade eigentlich nicht arbeiten. Es tut gut, ihre Stimme zu hören, auch wenn sie zu oft dieselben Fragen wiederholt, die Abgeschnittenheit von ihren Kontakten ist ihrem Gedächtnis nicht behilflich. „How often have I asked you that this week?“ Wir müssen beide lachen.
Unsere Abschlusssitzung vom Proseminar findet heute Morgen statt. Wir ziehen Bilanz, es scheint allen ähnlich zu gehen: Zoomen ist erschöpfend, wir vermissen die Uni. Es bleibt noch Zeit für Fragen über den Verlauf des Studiums. Zum Schluss stossen wir an: Das mit dem Augenkontakt ist schwierig auf Zoom.
Heute geht die Nachricht vom Mord an George Floyd umher. Ich schaue mir das Video an, aber lange kann ich nicht hinsehen. Ich bin unglaublich wütend und fühle mich zugleich ohnmächtig. Wegsehen fühlt sich falsch an, Hinsehen auch. Es sind dieselben Nachrichten, die wir von vorher kennen, auch das gehörte zur Normalität. Es ist nicht diese Normalität, die ich mir zurückwünsche.
Der Morgen verläuft wie gewohnt: früh wach, Latein: Frust über Deponentien. Beim Mittagessen fällt mir auf, dass die Abschiedsrunde meiner Schreibübung auf Zoom vor ungefähr einer Stunde begonnen hat. Ich entschuldige mich bei meinen Eltern und eile an den Laptop. Gerade wird zwei Wahrheiten, eine Lüge gespielt. Es werden verrückte Anekdoten erzählt, als jemand behauptet, miterlebt zu haben, wie die Fruchtblase der Sitznachbarin im Flug geplatzt ist, legt jemand ein Veto ein. Sinn der Übung soll sein, kleine Ungereimtheiten in den Erzählungen zu entdecken, eine wichtige Fertigkeit für HistorikerInnen. Hochschwangere wissen, dass sie nicht fliegen sollten. Recht gehabt, das war erfunden.
Später mache ich mich auf den Weg zur Gitarrenstunde, meine Lehrerin und ich plaudern über unsere (geplatzten) Pläne für den Sommer. Solche Gespräche ohne Belang habe ich irgendwie vermisst. Als ich nach Hause komme, schreibt mir eine Freundin, wo ich bleibe, die etü-Sitzung habe vor einer Stunde angefangen. Sich am selben Tag an zwei Zoom-Sitzungen um eine Stunde zu verspäten, das muss man erst einmal schaffen.
Heute arbeite ich an einem Essay zur Bedeutung von Königsurkunden im Mittelalter, dabei höre ich mir die Podcasts der Vorlesung in doppelter Geschwindigkeit an. Der Professor hört sich so ein wenig an wie diese Chipmunk Remixes von Popliedern, die vor ein paar Jahren im Internet herumgegeistert sind. Erinnert sich sonst wer an die? Ich muss schmunzeln.
Am Abend steht Babysitten an. Den Kleinen habe ich seit Ende Januar nicht gesehen, die Eltern hatten ja auch keinen Grund auszugehen. Irgendwie bin ich nervös; was, wenn er mich nicht mehr kennt und den ganzen Abend nur weint? Als ich ihn sehe, zeigt er aber mit dem Finger auf mich und lacht, gutes Zeichen. Er ist jetzt knapp anderthalb Jahre alt und in der Zeit, in der ich ihn nicht gesehen habe, hat sich unglaublich viel verändert. Er krabbelt nun, und als wir ein Buch lesen, murmelt er die Namen der Tiere darin vor sich hin. Ich kann nicht anders, als von seiner guten Laune angesteckt zu werden, die allerkleinsten Dinge bringen ihn zum Lachen. Wir bauen zusammen einen Turm aus Bauklötzen, oder vielmehr wartet er ungeduldig darauf, dass ich das tue, dann demoliert er den Turm mit einem souveränen Hieb und lacht mich anschliessend verschmitzt an. Auch wenn ich gerade von einem siebzehn Monate alten Baby verspottet werde, wird mir unglaublich warm ums Herz. Für mich ist die Zeit die letzten paar Monate stillgestanden, aber hier ist etwas ganz Grosses passiert. Er wird sich nicht an diese Zeit erinnern.
Irgendwann im April kam meine Tante auf die Idee, alle zwei Wochen ein Familientreffen auf Zoom abzuhalten. Meine Verwandten sehe ich sonst nie so regelmässig, da alle in den Vereinigten Staaten wohnen. Wir sprechen über die leergefegten Supermärkte, meine Grossmutter erzählt uns Geschichten aus dem Krieg, als man Butter, Fleisch und Zucker nur mit Rationsmarken einkaufen durfte. Been there, done that, sagt sie.
Auch in Chicago gab es in den letzten Tagen Ausschreitungen wegen dem Mord an George Floyd. Die Polizei in der Stadt habe schon immer ein Problem mit Afroamerikanern gehabt, regt sich meine Grossmutter auf. Bei anderen scheint die Wut einer Resignation gewichen zu sein, das Thema ist ihnen sichtlich unangenehm, sie schweigen.
Am Abend gehe ich mit Freunden zum ersten Mal wieder aus. Die Bars und Clubs haben nur bis Mitternacht offen und getanzt werden darf auch noch nicht, aber davon lassen wir uns nicht stören. Ich schliesse meine Augen und lausche versonnen den Gesprächen um uns herum. Die Welt fühlt sich schon fast wieder normal an.
Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
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… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang
…zu Teil VIII: Auf Montag folgt… Montag
…zu Teil IX: Been There, Done That