«Wir wollen uns an den politischen Deutungsprozessen beteiligen»

Vor einem Jahr hat eine Gruppe von Geistes- und Kulturwissenschaftlern die Online-Plattform «Geschichte der Gegenwart» aufgeschaltet. Unter ihnen befinden sich die Zürcher Professorinnen Svenja Goltermann und Gesine Krüger sowie Professor Philipp Sarasin. Ziel der Plattform ist die direkte professorale Einmischung in öffentliche Debatten. Sollen Professoren nebenbei noch Journalisten sein? Und hat die Plattform Erfolg? Etü-Autor Caspar Pfrunder hat Philipp Sarasin zum Gespräch getroffen.

Etü: Wie fällt Ihre Bilanz nach einem Jahr aus? Sind Sie zufrieden?

Philipp Sarasin: Wir konnten mit einer grossen Aufmerksamkeit in der Presse starten. Es wurde stark wahrgenommen, dass sich hier Professorinnen und Professoren in die öffentliche Diskussion einbringen möchten. Wir sind sehr zufrieden.

Wie viele Leser erreicht «Geschichte der Gegenwart» mit ihren Beiträgen?

Die Leserzahlen bewegen sich zwischen 1’000 und 15’000 pro Artikel. Jede Woche erscheinen im Schnitt zwei Artikel, mehr schaffen wir nicht. Wir haben das Gefühl, dass das Publikum auch gar nicht mehr aufnehmen kann, der Informationsmarkt im Internet ist natürlich sehr umkämpft. Deshalb bewerben wir jeden Artikel auf Facebook und Twitter, das ist notwendig. Vor allem Facebook generiert sehr viele Leser.

Ist die Plattform ein langfristiges Projekt? Haben Sie finanzielle Mittel dafür?

Ja! Gerade erst haben wir die Herausgeberschaft um zwei Mitglieder erweitert, jetzt sind wir zu siebt. Und wir wollen noch moderat ausbauen.

Die Stiftung für Medienvielfalt unterstützt uns für mindestens drei Jahre. Mit diesem Geld können wir die wichtigsten technischen Systemaufgaben bezahlen. Die Autorenschaft verdient nichts, wenige Ausnahmen gibt es im Fall von professionellen Journalisten. Bei uns geht es um Intellektuelle, die sich aus freiwilligem Engagement in die öffentlichen Debatten einbringen wollen.

 «Klar gibt es ein Bedürfnis nach Identität und Orientierung. Man kann jetzt aber nicht folgern, die Linke sollte das Gleiche versuchen, wie es die Nationalkonservativen tun.»

Verstehen Sie diese Tätigkeit eigentlich als Teil Ihrer Professur? Gehört das zu Ihrem Job?

Im Grund genommen schon. In den Geistes- und Kulturwissenschaften gibt es eine Tradition der public intellectuals, die wir pflegen möchten. Wir wollen uns an den politischen Deutungsprozessen beteiligen. Dafür stehen uns aus dem wissenschaftlichen Hintergrund bestimmte Instrumente zur Verfügung. Das heisst aber nicht, dass wir Wissenschaftspopularisierung betreiben. Wir schreiben nur selten über unsere eigene Forschung. Aus unserem fachlichen Hintergrund gewinnen wir vor allem spezielle Zugänge zu den Themen: Das können etwa semiotische, diskursanalytische oder auchgenderwissenschaftliche Perspektiven sein.

Professoren sind sich gewohnt, für ein Fachpublikum zu schreiben. Doch mit «Geschichte der Gegenwart» möchten Sie ein breiteres Publikum erreichen. Wie gelingt das?

Man muss sich daran gewöhnen. Bei uns hat ein Autor oder eine Autorin nur etwa vier Seiten pro Artikel zur Verfügung. Es braucht ein überzeugendes Argument, denn die Leserschaft ist mit einem Klick bereits wieder weg. Doch es gelingt. Während ein Artikel in einer akademischen Fachzeitschrift nur eine geringe Verbreitung findet, geht es bei uns in der Regel in den vierstelligen Bereich.

Welche Art Beiträge werden vom Publikum am besten aufgenommen?

Am meisten gelesen wurde ein Text über Argentinien. Dieser Artikel wurde in Südamerika offenbar aktiv weiterverbreitet. Davon abgesehen ist zu beobachten, dass etwa Artikel über Blocher oder Köppel sofort viele Klicks generieren. Das muss mit der Qualität natürlich nicht korrelieren. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass ein exzellenter Artikel über Studentenproteste in Südafrika kaum ein Publikum findet. Unsere Leserschaft stammt zu zwei Dritteln aus der Schweiz, ein Viertel kommt aus Deutschland und der Rest ist breit gestreut. Deshalb werden besonders Schweizer Themen gut gelesen.

Wer darf bei Ihnen publizieren?

Schon über 50 Fremdautoren haben einen Beitrag geschrieben. Meist fragen wir diese an. Wir redigieren und lesen diese Texte intensiv. «Geschichte der Gegenwart» hat einen hohen Qualitätsanspruch. Manchmal werden Texte auch abgelehnt.

«Wer sind wir? In welche Richtung wollen wir unsere Gesellschaft gestalten? Zu diesen Fragen leistet die Geschichtswissenschaft immer weniger direkte Beiträge, sondern wurde vielmehr grundsätzlich dekonstruktiv und kritisch.»

Geht es für Sie auch darum, in den etablierten Medien zitiert zu werden? Möchten Sie Themen setzen?

Selbstverständlich wäre das schön. Man darf die Latte aber nicht zu hoch hängen. Es gibt sehr viele gute professionelle Journalisten, die den ganzen Tag nichts anderes machen. Wir machen das nebenbei. Und ganz so einfach ist es nicht, Themen zu setzen. Aber wir werden wahrgenommen. Sehr viele Journalisten folgen uns zum Beispiel auch auf Twitter.

Es gibt immer mehr Online-Plattformen, auf denen Wissenschaftler direkt mit einem breiteren Publikum in Kontakt treten wollen. Braucht die Wissenschaft die klassischen Medien weniger oder gar nicht mehr als Vermittler?

Eine Motivation für «Geschichte der Gegenwart» war auch unsere Frustration über den Tages-Anzeiger, die Basler Zeitung oder die Neue Zürcher Zeitung. Als Professorin oder Professor hat man eigentlich das Privileg, in den überregionalen Zeitungen ab und zu publizieren zu dürfen, während andere einen Leserbrief schreiben müssen. Einerseits wird es aber immer schwieriger dort reinzukommen, andererseits entsprechen uns diese Zeitungen sowohl politisch als auch formal immer weniger. Die Mediensituation in der Schweiz ist schwierig. In Deutschland wäre unsere Seite in dieser Form nicht nötig. Denn die deutschen Medien bieten noch genug Möglichkeiten, um jene Texte zu veröffentlichen, die wir wichtig finden.

In den Medien kommt die Historik immer weniger zu Wort, die Politikwissenschaft ist dominanter. Woran liegt das? Ist «Geschichte der Gegenwart» eine Antwort darauf?

Im 19. Jahrhundert war die Geschichtswissenschaft staatstragend und informierte politisches Handeln, das setzte sich auch ins 20. Jahrhundert fort. Auch mit der Sozialgeschichte und Frauengeschichte ab den 1960er Jahren thematisierten Historikerinnen und Historiker Fragen, die unmittelbar als gesellschaftlich und politisch relevant empfunden wurden.

sarasin

«Das Politische bleibt zentral.»

Seit der Verschiebung zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion in den 1990er Jahren macht die Geschichtswissenschaft hingegen immer weniger Klärungsangebote im Rahmen der politischen Aushandlungsprozesse. Wer sind wir? In welche Richtung wollen wir unsere Gesellschaft gestalten? Zu diesen Fragen leistet die Geschichtswissenschaft immer weniger direkte Beiträge, sondern wurde vielmehr grundsätzlich dekonstruktiv und kritisch. Leider interessiert das aber weniger Leute.

Haben denn die Sozialwissenschaften und die Politologie keine solche Entwicklung durchgemacht?

Sozialwissenschaften und Politologie haben viel stärker ein instrumentelles Wissen anzubieten. Sie sind ein Teil der Verwaltung von modernen Gesellschaften. Die Geschichtswissenschaft hat sich hier hingegen ein wenig aus dem Spiel genommen.

Hat man sich zu sehr auf Wissenschaftsgeschichte und einen Metadiskurs verlegt und die klassische Politik- und Sozialgeschichte vernachlässigt?

Das Problem ist, dass es einfach nicht mehr geht. Man kann nicht sagen, jetzt ist wieder 1970 und wir erzählen wieder die Geschichte der Bundesräte. Was aber diskutiert wird, ist eine neue Geschichte des Politischen. Wie werden politische Felder strukturiert? Wie werden Subjektpositionen verteilt? Was ist sagbar und was nicht? Was sind die Exklusionslinien? Ich verstehe meine Forschung als hochgradig politisch, aber sie ist ausserhalb des Felds der Verwaltung des Politischen.

Man sollte die politische Geschichte allerdings wieder so unterrichten, dass man sie als solche zur Kenntnis nehmen kann und lehren kann, aber natürlich mit neuen Instrumenten. Das muss kommen, da bin ich überzeugt. Das Politische bleibt zentral.

Was für eine politische Haltung vertritt «Geschichte der Gegenwart»?

Wir sind nicht neutral, sondern politisch. In der Auseinandersetzung um den Rechtspopulismus muss man sich positionieren. Ich finde diese Entwicklung gefährlich. Wir wollen uns aber nicht in einem simplen Links-Rechts-Thema einordnen. Gerade haben wir diskutiert, dass wir auch mal über gewisse Aspekte der Linken genauer reden müssen. Auch weil die radikale Linke zum Teil Putin-Versteher sind. Uns geht es darum zu definieren, was heute fortschrittlich, liberal oder weltoffen ist.

«Vielleicht ist es auch so, dass Geschichte einfach nicht mehr wichtig ist.»

Historische Themen werden in der Schweiz vor allem von der SVP erfolgreich bewirtschaftet. Kürzlich prangte Zwingli auf dem Cover der Weltwoche mit der Aufschrift: Ein Rebell nach Schweizer Art.

Das ist die sehr traditionelle alte Form, sich auf die Geschichte zu beziehen. Geschichte dient dann unmittelbar dazu, die eigene Gegenwart und Identität zu stabilisieren. Zwingli war natürlich kein „Schweizer“, sondern in erster Linie ein Zürcher. Es lässt sich so schnell dekonstruieren. Wir Historiker können gar nicht mehr anders als sofort dekonstruktiv an so etwas heranzugehen. Aber klar gibt es ein Bedürfnis nach Identität und Orientierung. Man kann jetzt aber nicht folgern, die Linke sollte das Gleiche versuchen, wie es die Nationalkonservativen tun. 1848 als Mythos ist genau so flach, das war der Freisinn. Auch auf die Geschichte der Sozialdemokratie kann man sich nicht einschwören, das 19. Jahrhundert war die Phase der Hochindustrialisierung, davon sind wir heute so weit weg. Das kann heute kein linkes Identifikationsangebot sein.

Haben sich vielleicht linke Historiker auch einfach vom politisch Nutzbaren distanziert?

Vielleicht ist es auch einfach so, dass Geschichte nicht mehr so wichtig ist (lacht). Es ist eine Überschätzung der Geschichtswissenschaften, zu meinen, wir können die Gegenwart durch die Vergangenheit erklären. Vielleicht ist unser Erinnern an Geschichte vor allem Dekonstruktion von historischen Altlasten. Doch es gibt natürlich schon Pfadabhängigkeiten, die man kennen muss. Die Geschichte ist auch einfach ein wunderbares Labor, das man zur Verfügung hat. Man kann das Funktionieren von Machtverhältnissen an historischen Beispielen studieren. Das heisst aber nicht, dass man es eins zu eins übertragen kann. Jedenfalls gewinnt man aus dem Bezug auf die Vergangenheit nicht Identität. Je genauer man schaut, desto brüchiger wird das Angebot.


«Geschichte der Gegenwart»

Geschichte der Gegenwart ist eine von Kultur- und GeisteswissenschaftlerInnen gegründete, politisch unabhängige Online-Plattform, über die zahlreiche kritische Artikel zu Themen aus dem In- und Ausland verbreitet werden. Dabei geht es der Herausgeberschaft vor allem darum, die Wichtigkeit der Geschichte in Bezug auf unsere gegenwärtigen Herausforderungen herauszustreichen.

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